„Der letzte Rest an Vertrauen in die Politik wurde in den Neckar gespült“
An diesem letzten Freitag im September spielten sich dramatische Szenen im Stuttgarter Schlossgarten ab. Die Stadt ist in einem Ausnahmezustand. Für viele Bürger ist es unfassbar, mit welcher Brutalität die Baden-Württembergische Landesregierung das Projekt Stuttgart 21 durchsetzen lässt.
Als ich an diesem Tag gegen 11.00 Uhr nach Hause kam, fand ich die Wohnung leer. Eigentlich erwartete ich volles Haus. Denn meine beiden Töchter hatten sich samt den Enkelkindern zum Mittagessen angemeldet. Kurz darauf klingelte das Telefon. Am anderen Ende meldete sich eine aufgebrachte Stimme. Meine Tochter war außer sich. Ich konnte sie sehr schlecht verstehen, da im Hintergrund großes Menschengeschrei, vermischt mit hohen Tönen der Trillerpfeifen, zu hören war. Trotzdem konnte ich dem Gespräch entnehmen, dass ich auf die Enkelkinder aufpassen sollte.
Ich sagte spontan zu. Nun musste alles sehr schnell gehen. Das bedeutete, für acht Personen ein Essen auf den Tisch zaubern, aber nach 30 Minuten war alles angerichtet und auf die Sekunde stürmten sie herein. Alle waren sehr aufgebracht und ihre Aussagen über das Geschehen im Park überstürzten sich. Sie sprachen von mehr als 100 verletzten Kindern, von gebrochenen Nasen und vielen Verletzten. Was sollen nur die jungen Menschen denken, die das erste Mal in ihrem Leben einen solchen Ausnahmezustand erleben mussten? Laut Aussagen von Ministerpräsident Mappus sind das alle Berufsdemonstranten. Auch meine Frau, die zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrierte, wird nun in diese Schublade geschoben.
Kaum waren wir mit dem Essen fertig, waren alle schon wieder weg auf dem Weg zum Park und ich saß mit den vier Enkelkindern im Wohnzimmer und wechselte die ersten vollen Windeln. Am Spätnachmittag wurden sie dann abgeholt und ich machte mich auf in den Park, um mir selbst ein Bild vor Ort zu machen.
Gleich am Eingang in den Park blendeten meine Augen einige Flutlichtscheinwerfer. Von der Brücke hing ein Transparent mit der Aufschrift: „2011 ist Landtagswahl…..Gruß an Frau Merkel!“
Beim zweiten Augenaufschlag sah ich Hunderte von weißen Helmen, auf denen sich das Scheinwerferlicht spiegelte. Ein Absperrgitter trennte die Weißhelme von den Demonstranten. An der vordersten Front gab es Sprechchöre wie: „Wir sind friedlich – was seid ihr?“ oder „ Mappus weg“. In der zweiten und dritten Reihe ging es sehr friedlich und locker zu. Menschen diskutierten in kleinen Gruppen. Mehrere Musikgruppen und Trommler spielten auf und vermittelten ein Flair einer entspannten Atmosphäre. Einige stillten ihren Durst mit Widerstandsbier, andere flanierten gemütlich durch den Park. Trotzdem spürte man eine Spannung. Was wird passieren? Werden sie mit dem Fällen der Bäume beginnen? Die Zeit verstrich. Projektgegner und Polizei standen sich stundenlang gegenüber.
Nach Mitternacht stieg die Anspannung deutlich an. Pünktlich um 0.01 Uhr erleuchtete die Polizei mit Flutlichtmasten den besetzten Platz, denn um diese Zeit endete die Schonfrist zum Fällen der Bäume.
Gegen 0.30 Uhr bereiten Arbeiter hinter dem Zaun die Baumfällung vor. Die Menge ist empört und ruft: „Aufhören, aufhören!“ Doch es nützt nichts. Um 0.58 Uhr fällt der erste Baum. Drei große Bagger rollen heran. Es breitet sich eine Ohnmacht unter den Demonstranten aus. Fassungslos und traurig verlassen immer mehr Teilnehmer den Ort des Geschehens. Ich nutze die Zeit, um mit möglichst vielen Menschen zu reden. Der Slogan „Oben bleiben“ macht die Runde als Aufforderung, den Kopfbahnhof oben zu lassen und natürlich auch den eigenen Kopf oben zu behalten. Eine etwa 70-jährige Frau fragt nach einer Mitfahrgelegenheit nach Hause. Ich verspreche ihr, sie nach Hause zu fahren und wir vereinbaren Ort und Zeit.
Es stimmt mich zuversichtlich, zu sehen, wie fremde Menschen miteinander diskutieren. Ein junger Mann meint: „So gewinnt man vielleicht Wahlen in Nord-Korea oder im Iran, aber nicht in Baden-Württemberg. Die Politik hat ihre Bürger gegen sich aufgebracht!“
Um 2.30 Uhr warte ich vergebens auf die ältere Frau, sie hat wohl eine andere Mitfahrgelegenheit gefunden. Dafür habe ich einen alten Freund, der extra von der Schweizer Grenze mit der Bahn anreiste und noch keine Übernachtungsmöglichkeit hat, mit nach Hause genommen. „Oben bleiben“ war unser Gutenachtgruß und danach fielen wir in einen tiefen Schlaf. (wkr)
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