„De facto kaum nutzbar“: Hausärzte warnen vor Chaos durch E-Patientenakte

Befunde, Laborwerte, Medikamente – ein Zugriff auf die elektronische Patientenakte (ePA) genügt, damit der behandelnde Arzt sich ein Bild machen kann. Doch bis zur unproblematischen Umsetzung dieser Vision könnte noch viel Zeit ins Land gehen. Das von Gesundheitsminister Lauterbach angeschobene Projekt steht in der Kritik, auch bei Patientenschützern.
Titelbild
Detaillierte Behandlungsverläufe sollen über die elektronische Patientenakte einsehbar sein.Foto: Dragos Condrea/iStock
Von 29. Juni 2024

Anfang des kommenden Jahres soll für rund 73 Millionen gesetzliche Versicherte in Deutschland die elektronische Patientenakte (ePA) eingeführt werden.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) setzt darauf, dass die Akte deutliche Verbesserungen für Patienten bringt. Doch es regt sich Kritik, denn die ePA hat Tücken. Beispielsweise müssen Versicherte aktiv Widerspruch einlegen, wenn sie keine ePA wollen.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sieht neben Vorteilen auch mehrere Nachteile, vor allem für ältere Patienten. Bezüglich der Weitergabe von anonymisierten Gesundheitsdaten spricht er sogar von einem Verstoß gegen die Grundrechte.

Brysch hält die Einführung der ePA für „längst überfällig“, wie er gegenüber Epoch Times mitteilte. Denn dadurch könnten Mehrfachbehandlungen verhindert und unerwünschte Wechselwirkungen durch Arzneimittel frühzeitig erkannt werden.

„Entscheidend ist allerdings, das selbstbestimmte Handeln der Patientinnen und Patienten zu wahren. Deshalb ist die Widerspruchslösung hier inakzeptabel“, betont Brysch. „Schließlich bedeutet Schweigen nicht Zustimmung.“

Ältere, Schwerkranke und Pflegebedürftige benachteiligt

Er sieht in der ePA eine Benachteiligung von Schwerstkranken und Pflegebedürftigen. Das heute bestehende Recht auf einen Medikationsplan in Papierform werde ihnen dann verwehrt.

„Diese Patientengruppe hat auch bei der Beteiligung der E-Akte das Nachsehen, weil wichtige Altbefunde nicht eingepflegt werden müssen. Zudem bleiben digital unerfahrene Menschen außen vor“, schildert Brysch.

Zu dieser Personengruppe gehören mehr als 20 Prozent der über 65-Jährigen. Er sieht es als Herausforderung, auch dieser oft pflegebedürftigen Patientengruppe einen differenzierten Umgang mit ihren Daten zu ermöglichen.

Kritik an Datenweitergabe

„Ebenso ist es ein Verstoß gegen Grundrechte, dass selbst anonymisierte Gesundheitsdaten ohne Zustimmung der Betroffenen an die pharmazeutische Forschung weitergegeben werden. Im Gegenzug wird die Forschung jedoch nicht verpflichtet, alle Ergebnisse zu publizieren“, kritisiert der Patientenschützer weiter. „Viel zu oft verschwinden unliebsame Erkenntnisse in den Schubladen“, so Brysch.

Hausärzte befürchten „Chaos-Start“

Kritik gibt es auch vom Hausärzteverband. Dieser rechnet mit massiven Umsetzungsproblemen. „Eine gut funktionierende ePA für alle wäre zweifelsohne ein Segen“, sagte Nicola Buhlinger-Göpfarth, Co-Vorsitzende des Verbands, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Donnerstagsausgaben). „Stand jetzt ist die Umsetzung allerdings so schlecht, dass wir leider mit einem Chaos-Start rechnen müssen.“

Grundsätzlich unterstützt der Hausärzteverband nach eigenen Angaben das Konzept eines solchen Opt-out-Modells. Doch in der Praxis ergeben sich laut Buhlinger-Göpfarth große Schwierigkeiten: „Bis heute ist die ePA de facto kaum nutzbar“, sagte sie. Die Kollegen sowie die Versicherten hätten unter anderem mit schier unendlichen Ladezeiten und einem chaotischen Aufbau der ePA zu kämpfen. Daran habe sich seit dem Start vor drei Jahren wenig geändert.

„Diese ePA nun auf über 70 Millionen GKV-Versicherte loszulassen, ist mehr als gewagt“, kritisierte die Verbandschefin. Wenn kein Wunder geschehe, dann würden sich Millionen Patienten und Zehntausende Ärzte im Februar 2025 mit einer praxisuntauglichen ePA herumschlagen müssen. Der dringend benötigten Digitalisierung des Gesundheitswesens würde das einen weiteren Tiefschlag versetzen, sagte Buhlinger-Göpfarth.

Markus Beier, Co-Vorsitzender des Hausärzteverbands, sieht die Verantwortung für die aktuelle Situation beim Bundesgesundheitsministerium, aber auch „mindestens zu gleichen Teilen“ bei den Herstellern und der Gematik. „Es sind jetzt noch ein paar Monate Zeit, um die größten Stolpersteine aus dem Weg zu räumen und damit in einem halben Jahr das zu schaffen, was in den Jahren davor nicht gelungen ist: eine ePA auf die Straße zu bringen, die tatsächlich die Versorgung verbessert“, sagte Beier.

Politik aus dem „Elfenbeinturm“

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) teilt die Befürchtung des Hausärzteverbands über einen daraus resultierenden Kollaps der Arbeitsabläufe in den Praxen. Präsidentschef Dr. Michael Hubmann betont, dass die Ärzte jede Form der Digitalisierung unterstützen. Allerdings müsse sie funktionieren.

„Was das neue Digitalgesetz jedoch in Bezug auf die ePA-Befüllung vorsieht, ist ein nicht-praktikabler Vorschlag aus dem Elfenbeinturm der Politik. Bevor irgendwelche Zeitvorgaben gemacht werden, muss erst gewährleistet sein, dass die Arbeit mit der ePA reibungslos funktioniert. Davon sind wir weit entfernt“, so Hubmann.

Die technischen Voraussetzungen für eine Pflichtbefüllung durch die Praxisverwaltungssysteme seien schlichtweg nicht gegeben. Sie könnten „auch durch einen Zwang, den am Ende die Praxen und Patienten ausbaden, nicht herbeigezaubert werden“.

Die elektronische Patientenakte ist seit 2021 auf Verlangen von Versicherten verfügbar. Im Jahr 2025 soll es zunächst eine vierwöchige Testphase in Modellregionen geben, anschließend soll die Akte für alle gesetzlich Versicherten kommen. Sie soll Versicherte ihr ganzes Leben lang begleiten und unter anderem Informationen über Medikamente, Befunde und Laborwerte speichern. Versicherte, die das nicht möchten, müssen dem Anlegen ihrer ePA ausdrücklich widersprechen. In Fachkreisen spricht man von der sogenannten Opt-out-Regelung.

Mit Material von dts



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