„Das Bildungssystem steht vor dem Kollaps“ – Pädagogen schlagen Alarm
Eine Bertelsmann-Studie aus dem vergangenen Jahr zeigt, dass 2023 rund 384.000 Kita-Plätze in Deutschland fehlen, davon 362.400 im Westen und 21.200 im Osten.
Darüber hinaus werden bis zum Jahr 2030 weitere 600.000 Ganztagsplätze in Grundschulen benötigt. Mit verschiedenen Methoden versuchen einzelne Regionen, die Probleme anzugehen.
Tagesmütter sind rar
„Ich könnte meine Plätze inzwischen doppelt und dreifach besetzen“, sagt Tagesmutter Mirjam Knaus aus dem baden-württembergischen Östringen im Landkreis Karlsruhe. Gerade seien zwei Ganztagsgruppen einer Kita am Ort wegen Fachkräftemangels geschlossen worden. Die Nachfrage sei enorm, ihre Plätze bis 2025 ausgebucht.
An der Mecklenburgischen Seenplatte ist die Zahl der Tagespflegekräfte innerhalb weniger Jahre um ein Drittel zurückgegangen. Die Bezahlung sei „miserabel“, erklärte der Röbeler Tagesvater Mario Radfeld die Lage. Er kritisiert strenge Regelungen der Kreisverwaltung, mit denen die Tagespflege zu kämpfen hat. Dagegen hat er auch geklagt. Manche Verfahren laufen noch. Einige seiner Kollegen hätten sich inzwischen umorientiert und arbeiten nun in Kitas. „Auch so lassen sich Personalprobleme lösen“, so Radfeld.
Hilfskräfte statt Pädagogen
In der bayerischen Stadt Dachau will die Stadtverwaltung 17,5 neue Stellen schaffen, von denen nur drei ausgebildete Pädagogen betrifft. Der Rest sollen Auszubildende, Küchenhilfen und Assistenzkräfte sein, die den Erziehern zur Hand gehen.
Auch dass Kitas wegen des Fachkräftemangels ihre Öffnungszeiten verkürzen, ist keine Seltenheit – so geschehen in Tübingen. Mancherorts greift man auf pädagogische Hilfskräfte, meist Eltern zurück, die keine spezielle Ausbildung haben.
Nach Aussage des Verbands Kitafachkräfte Baden-Württemberg sind die Einrichtungen massiv überlastet und stehen kurz vor dem Kollaps. Die erste Verbandsvorsitzende Anja Braekow warnt vor einer Entprofessionalisierung durch die Hintertür.
„Es macht doch keinen Sinn, fachfremde Kollegen reinzuholen“, sagt sie. Braekow setzt sich dafür ein, den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz – sowohl für die unter als auch über Dreijährigen – auszusetzen. „Wir können den nicht erfüllen.“
Am besten wäre es, das System einfach mal gegen den Baum fahren zu lassen“, so Braekow.
In der Stadt Ditzingen nordwestlich von Stuttgart schließt zum Jahresende ein Hort aufgrund des vorrangigen Rechtsanspruchs von Kita-Kindern. Jeder Platz, der in der Kita durch ein Schulkind nach dem Unterricht und in den Ferien genutzt werde, blockiere den Kita-Platz für ein jüngeres Kind, heißt es zur Begründung von der Stadt.
600.000 weitere Ganztagsplätze bis 2030 benötigt
Auch der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung von Grundschülern, der erst ab 2026 zunächst für Erstklässler und in den Folgejahren immer weiter ausgedehnt werden soll, steht schon jetzt auf wackligen Beinen.
„Bis zum Jahr 2030 müssten die Kommunen mindestens 600.000 Ganztagsplätze zusätzlich schaffen, was allein aufgrund der angespannten Personalsituation im Bereich der Erzieherinnen und Erzieher nicht realisierbar sein wird“, sagte Geschäftsführer Gerd Landsberg der „Augsburger Allgemeinen“. Er forderte, dass das Inkrafttreten verschoben und zumindest in Regionen ausgesetzt wird, in denen der Rechtsanspruch nicht erfüllt werden kann.
Die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, Ulrike Bahr (SPD), lehnte dies ab. Für sie wäre das nicht nur ein familienpolitisches Armutszeugnis, sondern vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels auch ein verheerendes Signal für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Rechtsanspruch sei bereits um ein Jahr nach hinten geschoben worden.
Über 3,5 Milliarden Euro sind als Investitionen bereitgestellt und eine Beteiligung an den Betriebskosten zugesagt, sagte Bahr. Nun müssten die Länder dafür sorgen, dass das Geld bei den Grundschulen ankomme. „Kommunen, Länder und der Bund müssen jetzt bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs in die Pötte kommen und gemeinsam pragmatische Lösungen finden, anstatt gegenseitig Vorwürfe hin- und herzuschieben.“
200.000 ukrainische Schüler
Grund für den Mehrbedarf an Betreuungsplätzen sind nicht zuletzt die aus der Ukraine geflohenen Familien. 200.000 ihrer Kinder gehen mittlerweile in Deutschland zur Schule. Bei einer Klassenstärke von 30 Schülern sind dies rein rechnerisch mehr als 6.600 Klassen, die zusätzlich zu unterrichten sind.
„Die ukrainischen Kinder haben einen sehr hohen Betreuungsbedarf, es fehlt an Fachkräften“, erklärte Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund gegenüber dem „Tagesspiegel“. Wie brenzlig die Situation wirklich ist, fasste Maike Finnern, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), in einem Satz zusammen:
Das Bildungssystem steht vor dem Kollaps.“
Nach Angaben des Schulministeriums Nordrhein-Westfalen wurden 35.867 Kinder aus der Ukraine in die schulische Erstförderung aufgenommen. 1.051 zusätzliche Lehrerstellen seien dafür geschaffen worden. Mit dem Nachtragshaushalt wurden weitere 1.000 Stellen bewilligt.
In Bayern werden laut Kultusministerium 29.500 ukrainische Kinder beschult. Auch hier ist der Bedarf an Lehrern groß. Im laufenden Schuljahr konnten 600 Personen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft dafür gewonnen werden; 430 von ihnen hatten bereits in der Ukraine als Lehrer gearbeitet.
Berlin: Fast 1.600 Kinder warten auf Schulplatz
Eine von der AfD gestellte Anfrage an die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie zeigt, dass dort die „Willkommensklassen“ für aus dem Ausland stammende Schüler überlaufen sind. Woher sämtliche Kinder genau kommen, ist nicht klar. Bis auf die Ukraine werden keine Herkunftsländer erfasst.
„Mit Stand 30. Mai 2023 warteten 1.597 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter auf einen Schulplatz“, so der Senat. Besonders betroffen sind die Bezirke Pankow (350), Marzahn-Hellersdorf (276), Tempelhof-Schöneberg (220) und Lichtenberg (195).
Bezüglich der damit verbundenen Kosten hielt sich die Verwaltung bedeckt. Die Pro-Kopf-Ausgaben für die einzelnen Schüler seien abhängig von der Schulart. Durchschnittlich seien in Berlin im Jahr 2020 für jeden einzelnen Schüler 12.300 Euro ausgegeben worden. Statistisch verwertbare Daten über zusätzliche Kosten durch die Willkommensklassen lägen nicht vor.
Der Deutsche Lehrerverband sieht die Situation zu den ukrainischen Schülern kritisch. Rund 200.000 seien „einigermaßen“ an den Schulen untergekommen, sagte Präsident Meidinger gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Nach seiner Erfahrung mangelt es vor allem an Lehrern, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten.
Letztendlich habe man das Versprechen der Schulpolitik, dass zum Ende des Schuljahres alle ukrainischen Flüchtlingskinder den Anschluss an das Lernniveau der Regelklassen gefunden hätten, nicht halten können, so Meidinger.
(Mit Material von dpa)
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