Corona-Hilfe nur noch bei richtiger „Haltung“? Broder: „Todesstrafe light“

Soll der Anspruch Krankenversicherter auf Heilbehandlung im Krankheitsfall künftig von der weltanschaulichen Überzeugung abhängen? Ein Mitglied des „Ethikrats“ der Bundesregierung und der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft nehmen Impfgegner ins Visier.
Von 22. Dezember 2020

Laut einer jüngsten Umfrage des RTL/ntv-Trendbarometers will sich angeblich die Hälfte der Deutschen sofort gegen COVID-19 impfen lassen. 40 Prozent wollen vorerst abwarten. Der Anteil der dezidierten Impfverweigerer liege bei elf Prozent.

Zu viel, um es ohne Sanktionen hinzunehmen, findet ein Mitglied des Ethikrats der deutschen Bundesregierung und der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft.

Impfverweigerer sollen „Dokument bei sich tragen“

Der Humangenetiker Wolfram Henn äußerte am Samstag in der „Bild“-Zeitung, dass Personen, die grundsätzlich eine Impfung ablehnten, sollten „ständig ein Dokument bei sich tragen mit der Aufschrift: Ich will nicht geimpft werden! Ich will den Schutz vor der Krankheit anderen überlassen! Ich will, wenn ich krank werde, mein Intensivbett und mein Beatmungsgerät anderen überlassen“.

Zwar sprach Henn sich gegen eine Impfpflicht aus. Er könne eine „grundlegende Skepsis“ bezüglich des in kurzer Zeit entwickelten Corona-Impfstoffs verstehen. Allerdings sollten offene Fragen an Experten gerichtet werden. Die Forscher an dem Präparat hätten, so Henn, „mit riesigem Aufwand das Tempo erhöht, aber nicht auf Kosten der Sicherheit“.

„Schutzinteresse der Solidargemeinschaft vor übergebührlicher Inanspruchnahme“

Noch weiter geht der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther. Er will, wie er gegenüber dem „Handelsblatt“ sagt, prüfen lassen, ob „Impfverweigerer wegen der aus ihrem Verhalten resultierenden externen Effekte dadurch sanktioniert werden können, dass bei ihnen kein Versicherungsschutz im Falle einer Covid-19-Erkrankung besteht“.

Schließlich sei eine Impfverweigerung nicht nur ein „unsolidarisches Verhalten“, ein Erkrankter verursache zusätzlich „enorme Kosten für die Allgemeinheit“.

Die „teilweise Abkehr des Solidarprinzips“, die Hüther für einen solchen Fall einräumt, sei jedoch gerechtfertigt im „Schutzinteresse der Solidargemeinschaft vor übergebührlicher Inanspruchnahme“.

Kölner Rechtsanwalt vergleicht Impfgegner mit Terroristen

Auf Facebook geht der Kölner Rechtsanwalt Ralf Höcker „sogar noch weiter“ und erklärt: „Wer sich nicht impfen lässt, gefährdet nicht nur sich, sondern die ganze Gesellschaft. Das ist ethisch nicht zu verantworten.“

An COVID erkrankte Impfgegner seien demnach „im Rahmen der Triage nachrangig zu behandeln, wenn ein geimpfter Covid-Patient, bei dem die Impfung nicht gewirkt hat (ja, die Fälle wird es geben) ansonsten medizinisch gleichrangig behandlungsbedürftig ist“.

Wer „dumm und unverantwortlich“ genug sei, Impfschutz abzulehnen, „muss für diese Rücksichtslosigkeit im Zweifel mit seinem Leben bezahlen, anstatt einem verantwortlich handelnden Todkranken das lebensrettende Intensivbett wegzunehmen“.

Auf Kritik an dieser Position reagierte Höcker mit dem Hinweis, dass es schließlich auch statthaft wäre, „Terroristen“ nachrangig zu behandeln, wenn in einem Krankenhaus für mehrere bedürftige Personen nur eine begrenzte Anzahl an lebensrettenden Versorgungsplätzen verfügbar wäre.

Broder: „Wäre kein absolutes Novum in der deutschen Geschichte“

Charité-Virologe Christian Drosten solidarisiert sich auf Twitter mit Henn. Dieser sei ein „seriöser Wissenschaftler“, der „Menschenleben retten“ wolle, „sonst nichts“. Die „nicht endenden Angriffe auf seriöse Wissenschaftler und die stetige Verballhornung ihrer Aussagen werden in diesem Winter noch Tausende das Leben kosten“, prognostiziert Drosten.

FDP-Vize Wolfgang Kubicki kritisierte den Vorschlag Henns hingegen in der „Bild“ als „zutiefst unmenschlich und unethisch“, zudem wäre ein solches Vorgehen verfassungswidrig. Uwe Janssens, Chef der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V., mahnte, Henns Haltung sei „ethisch überhaupt nicht vertretbar“. Janssens betonte, er werde alle Patienten behandeln.

Henryk M. Broder schreibt mit Blick auf den Henn-Vorstoß in der „Welt“ von einer „Todesstrafe light“, auf die dieser Vorschlag hinauslaufe. Was ihm vorschwebe, wäre „kein absolutes Novum in der deutschen Geschichte, aber doch eine Novität für einen Rechtsstaat, der den Schutz des Individuums nicht von dessen Wohlverhalten abhängig macht“.

Würde der Ethikrat auch Sportverletzungen nicht mehr behandeln lassen?

Das von Henn beschworene „Schutzinteresse der Solidargemeinschaft vor übergebührlicher Inanspruchnahme“ gegenüber Impfverweigerern könnte in weiterer Folge auf der Grundlage der gleichen Argumentation noch weitreichendere Konsequenzen haben.

Einer Studie der Uni Bochum und der Arag-Sportversicherung aus dem Jahr 2012 zufolge kommt es im Jahr zu etwa zwei Millionen Sportverletzungen, allein 200.000 davon im Vereinssport. Die Kosten für die Behandlung typischer Folgeerscheinungen liegen dabei jeweils im vierstelligen Bereich. Die Behandlung eines Kreuzbandrisses koste im Schnitt 3230 Euro, die eines Schien- oder Wadenbeinbruchs fast 5000 Euro.

Mit „Schutzinteresse der Solidargemeinschaft vor übergebührlicher Inanspruchnahme“ könnte es vor diesem Hintergrund zweifellos auch begründet werden, Sportverletzungen aus dem gesetzlichen und in weiterer Folge auch privaten Versicherungsschutz herauszunehmen.

Detektive könnten alles vom Ess- bis zum Sexualverhalten überwachen

Außerdem könnte die steigende Anzahl der Fälle von Geschlechtskrankheiten wie Syphilis Versicherungsträger dazu veranlassen, bei vor- oder außerehelichen Kontakten wegen Risikoerhöhung den Versicherungsschutz zu verweigern. Ab einer bestimmten Höhe der Kosten würde es möglicherweise den Kassen billiger kommen, das Sexualverhalten ihrer Versicherten durch Detektive ausforschen zu lassen.

In Anbetracht der Tatsache, dass in Deutschland rund zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig sind, je ein Viertel sogar in starkem Ausmaß, täten sich auch mit Blick auf Ernährungsgewohnheiten und Bewegung Kontroll- und Sanktionspotenziale für Krankenversicherungen auf.

Für die Krankenversicherungen könnten sich daraus immense Einsparungspotenziale ergeben – für breite Bevölkerungsschichten (im doppelten Sinne des Wortes) demgegenüber enorme Einbußen hinsichtlich des medizinischen Versorgungsstandards.

Einstieg in ein Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild

Am Ende könnte auf der Grundlage eines Verständnisses von „Ethik“, wie sie Henn, Hüther oder Höcker offenbaren, das Solidarprinzip im Gesundheitswesen durch ein Sozialkredit-System abgelöst werden. Ein solches besteht in Chinas totalitärer KP-Diktatur und ermöglicht dort dem Regime einen weiteren Ausbau seiner Kontrolle über die Bürger.

In Deutschland hat bis dato noch kein Politiker explizit ein ähnliches System gefordert. Im „Handelsblatt Global“ diagnostizierte jedoch Professor Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für menschliche Entwicklung in Berlin, der unter anderem als Verbraucherschutzberater für das Justizministerium arbeitet, im Jahr 2018, dass Deutschland in eine solche Richtung „schlafwandelt“.

Gigerenzer spielte dabei auf das Schufa-System zur Bestimmung der Kreditwürdigkeit an. Dieses lasse sich jedoch, so der Wissenschaftler, bei Bedarf auch auf andere Bereiche des Verhaltens ausweiten und in Zeiten von Big Data mit einfachen Mitteln administrieren.

Die Konsequenzen könnten etwa Restriktionen bei Reisen oder dem Zugang zu Einrichtungen des Bildungswesens umfassen. Corona und die Frage einer direkten oder indirekten Impfpflicht waren zum Zeitpunkt des Beitrages noch kein Thema.

Zulassung des Corona-Impfstoffs in EU für kommende Woche erwartet

In den USA hat die zuständige Behörde FDA dem Anti-Corona-Präparat, das von Pfizer und BioNTech entwickelt wurde, vor etwas mehr als einer Woche die Notzulassung erteilt. Seither wurden bereits mehrere hundert Personen geimpft, vor allem solche des medizinischen Pflegepersonals.

Auch der amtierende Vizepräsident Mike Pence hat sich das Präparat bereits verabreichen lassen. Der wahrscheinliche künftige Präsident Joe Biden will sich am Montag öffentlich gegen COVID-19 impfen lassen. Für die EU wird im Laufe der kommenden Woche eine Zulassung erwartet.



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