Corona-„Furchtappell“: Politik drängte Expertenrat zu Änderung in Stellungnahme

Jüngst veröffentlichte Sitzungsprotokolle und E-Mails aus dem Expertenrat der Bundesregierung zur Corona-Pandemie weisen auf massive Einflussversuche vonseiten der Politik hin. So drängte die Bundesregierung auf die Streichung von Daten aus einer Stellungnahme zu Long COVID – und wollte einen „Furchtappell“ durchsetzen.
Virologe Christian Drosten (l.), Mitglied des Expertenrates der Bundesregierung, und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
Virologe Christian Drosten (l.), Mitglied des Expertenrates der Bundesregierung, und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 31. August 2024

Nach den sogenannten RKI-Files sind nun weitere Dokumente aufgetaucht, die Einblick in die Entscheidungsfindung von Politik und Experten während der Corona-Jahre geben. Das Bundeskanzleramt hatte sich unter Androhung einer Klage der „Welt am Sonntag“ nach dem Informationsfreiheitsgesetz bereiterklärt, Protokolle und E-Mails des Expertenrates der Bundesregierung freizugeben. Vor allem zum Thema von Long COVID liefern diese teils brisante Erkenntnisse.

Nach dem RKI jetzt auch Entscheidungsfindung im Expertenrat im Fokus

Das Blatt hat am Samstag, 31.8., ein nicht weniger als 468 Seiten umfassendes Konvolut an Bezug habenden Dokumenten veröffentlicht. Neben den Sitzungsprotokollen des im Dezember 2021 von Bundeskanzler Olaf Scholz eingesetzten Expertenrats ist darin auch Schriftwechsel zwischen dem Gremium und dem Kanzleramt enthalten.

Ähnlich wie im Fall der ursprünglichen Fassung der sogenannten RKI-Files blieben stellenweise in erheblichem Umfang Namen von Personen, Präparaten und teilweise ganze Absätze geschwärzt. Dennoch geben die lesbaren Daten ein aussagekräftiges Bild über die Entwicklung der Corona-Pandemie in ihrer beginnenden Endphase – und darüber, wie die Politik versuchte, die Erkenntnisse des Expertenrates ihren Richtungsentscheidungen anzupassen.

Bereits im Frühjahr des Jahres 2022 deutete der Expertenrat an, dass die Entwicklung des Corona-Geschehens allzu weitreichende Pandemiemaßnahmen nicht mehr als zwingend erscheinen ließ. So wurde im Protokoll vom 24.5. des Jahres erstmals eine mögliche Kehrtwende ins Spiel gebracht.

Corona-Kehrtwende wäre schon im Mai 2022 möglich gewesen

Im Protokoll zur Sitzung jenes Tages hieß es, es sei wichtig, sich „grundlegend zu einigen“, ob sich der Expertenrat „von der Containment-Strategie ganz lösen möchte oder diese noch verfolgt“. Eine Woche später war bereits die Rede von hoher Immunität, geringerer Krankheitsschwere und „vermutlich geringen“ Long-COVID-Fällen. Für die Bundesregierung hätte es demnach eine Option gegeben, in Abstimmung mit dem Expertenrat eine grundlegende Wende in der Ausrichtung der Corona-Politik herbeizuführen.

Am 28.6. war die Rede davon, dass Behandlungskapazitäten in Kliniken fehlten. Dies sei allerdings nicht auf eine hohe Patientenzahl, sondern auf Personalknappheit zurückzuführen. Im Protokoll desselben Tages wurde auch die Problematik möglicher Herzprobleme im Zusammenhang mit Corona-Impfungen eingegangen.

Dabei wurde festgehalten, dass es mit Blick auf junge Patienten keine validen Aussagen darüber gebe, ob das Risiko einer Myorkarditis mit der Anzahl der verabreichten Impfstoffdosen steige. Gerade bei diesem Krankheitsbild seien „langfristige Schäden erst mit zeitlichem Abstand zu der akuten Erkrankung“ zu beobachten.

Bundeskanzleramt drängte auf Anpassungen bei Stellungnahme zu Long COVID

Von besonderer Brisanz sind jedoch die aus den Dokumenten hervorgehenden Bemühungen der Politik, ein beständiges Level an Angst vor Corona in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Dafür war man auch bereit, den Expertenrat, der „der Pandemiebekämpfung eine stärkere Sachgrundlage“ geben sollte, unter Druck zu setzen.

Exemplarisch zeigen das die Kommentierungen eines Entwurfs des Gremiums zu einer Stellungnahme zum Thema „Long COVID“. Diese wurde am 15.5.2022 veröffentlicht. Die Ursprungsfassung wies eine Passage auf, die auf die Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS) einging. Diese neuroimmunologische Erkrankung könne infolge der Pandemie deutlich ansteigen, meinte der Expertenrat.

Dass das Vorkommen dieser Erkrankung vor der Corona-Pandemie „bei 0,1 bis 0,8 Prozent“ gelegen habe, wollte man im Bundeskanzleramt so jedoch nicht in der Stellungnahme stehen lassen. Für die Laien sei ein solcher prozentualer Anteil „sehr gering“, hieß es in einer Anmerkung. Deshalb sei diese Aussage zu streichen. In der Endfassung hieß es:

„Vor der Pandemie wurde für Deutschland mit etwa 250.000 ME/CFS Betroffenen gerechnet, darunter etwa 40.000 Kinder und Jugendliche. Die Zahl der Betroffenen wird infolge der SARS-CoV2-Pandemie deutlich ansteigen.“

Bundesregierung setzte noch weit in den Sommer 2022 hinein auf „klare Taktik der Angst“

Professor Christoph Kleinschnitz, Chef der Neurologie an der Uniklinik Essen, hält einen Zusammenhang zwischen Long COVID und ME/CFS für wissenschaftlich nicht belegt. Gegenüber der „Welt am Sonntag“ äußert der Schwerpunktforscher zu Long COVID:

„ME/CFS kann nicht nur durch Infekte hervorgerufen werden. Die Ursache ist letztlich unklar.“
Zudem sei nicht nachvollziehbar, worauf sich die Zahlen bezüglich der Erkrankungen der Kinder stützten. Kleinschnitz warf der Bundesregierung vor, mit Blick auf Long-COVID eine „klare Taktik der Angst“ zu fahren.

Dass diese Einschätzung nicht völlig substanzlos gewesen sein dürfte, zeigt sich am Protokoll vom 29.8.2022. In diesem ist die Rede davon, dass man vonseiten der Bundesregierung einen „Furchtappell“ an jüngere Personen im Kontext von Long COVID richten wolle. Neben Über-60-Jährigen und medizinischem Personal sollen diese eine der Hauptzielgruppen für eine „Kommunikationskampagne“ des Bundes werden. Diese soll auf diese Weise „zur Aufklärung der Folgen einer Long-COVID-Infektion sensibilisiert“ werden.

Hintergrund war die Erwartung, dass nach dem Sommer „keine endemische Lage vorzeitig eintreten“ werde. In dem Protokoll ist weiter vermerkt, dass der Einsatz eines solches Furchtappells im Expertenrat auf deutliche Kritik gestoßen sei. Die Bereitstellung von Informationsmaterial und die Einbindung von Ärzten und Pflegepersonal in die Aufklärung über Long COVID sei hingegen als wichtig erachtet worden.

Expertenrat warnte vor „schwer kontrollierbarem Gewaltpotenzial“ bei Fortdauer der Proteste

Mit Fortdauer der Zeit zeigte sich, dass sowohl Häufigkeit und Schwere der Symptome bei Corona-Fällen als auch die Akzeptanz der Pandemiemaßnahmen rapide sanken. Am 12.12.2022 war das zunehmende Protestgeschehen ein Thema im Expertenrat.

„Individuell wahrgenommene COVID-Belastung“ korreliere mit „den politischen Intentionen zu Chaos/Systembruch und Radikalisierung“, hieß es im Protokoll. Diese teilten in ausgewerteten Samples „jeweils etwas unter zehn Prozent – was auf ein beachtliches und staatlicherseits wohl schwer kontrollierbares Gewaltpotenzial“ hinweise.

Für Deutschland lasse sich feststellen, dass „der Glaube an Verschwörungstheorien die individuelle Befolgung von Vorsichtsmaßnahmen schwächt“. Gepaart mit niedrigem Vertrauen in politische Institutionen entstehe „ein sich gegenseitig bestätigender Automatismus im Sinne einer Abwärtsspirale“.

Kanzleramtsjuristin wies erstmals im Mai 2022 auf verheerende Lockdown-Auswirkungen auf Schulen hin

Tatsächlich neigte sich die Tätigkeitsperiode des Expertenrates ihrem Ende zu. Am 4.4.2023 fand dessen letzte Sitzung statt. Dabei ging es unter anderem um ein abschließendes „Lessons learned“. Ein solches wurde von den meisten Mitgliedern und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach abgelehnt. Als Grund dafür gab man an, eine umfassende wissenschaftliche Bewertung der eigenen Tätigkeit sei noch nicht möglich.

Weiteres brisantes Detail: Am 18.5.2022, dem Tag der „frisierten“ Long-COVID-Stellungnahme, wies Kanzleramts-Juristin Susanne Jaritz in einer Mail auf eine Information aus dem Bundesforschungsministerium hin. Diese lasse einen „nicht gerade optimistischen Stand“ zur Digitalisierung in Schulen erkennen. Die Mail thematisierte damit zum ersten Mal auf dieser Ebene, wie verheerend die Lockdown-Auswirkungen auf Kinder und das Schulwesen sein würden.



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