Bundesverfassungsrichter übt heftige Kritik am Zustand des Staats
"Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung steckt der durch das Grundgesetz verfasste Nationalstaat in einer Sinnkrise, der Rechtsstaat zeigt Erosionstendenzen, die Demokratie schwächelt, das Gewaltenteilungsgefüge hat sich weiter zugunsten der Exekutive verschoben und die Entwicklung des Bundesstaats lässt eine Orientierung vermissen", schreibt der Münchner Staatsrechtslehrer und frühere Thüringer Innenminister in der Zeitung. "Das Verständnis für Sinn und Zweck des im Dienste seiner Bürger stehenden Nationalstaats ist geschwunden."
Auf Dauer werde das zum Problem, "weil Akzeptanz und Legitimität des Staates davon abhängen, dass er seine Zwecke auch zur Zufriedenheit seiner Bürger erfüllt", schreibt Huber, der im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts für Europa- und Völkerrecht zuständig ist.
Je stärker die Fragmentierung der Gesellschaft in ethnischer, religiöser, sozialer und kultureller Hinsicht werde, desto mehr müsse der Staat Gemeinsamkeit stiften.
"Gerade als Einwanderungsland ist Deutschland auf einen Staat angewiesen, der seine Werte durchsetzt und seinen Staatsbürgern Vertrauen und Stolz vermittelt." Auch sei immer wieder zu hören, dass es keine Unterschiede zwischen deutschen und europäischen Interessen gäbe.
"Sonderlich überzeugend ist das nicht", so Huber. Es sei "vielmehr Ausdruck einer intellektuellen oder politischen Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu eigener Positionsbestimmung, die für den Einfluss Deutschlands auf europäische (Rechtssetzungs-)Prozesse fatal ist und häufig in einer Enthaltung im Rat mündet, die im Jargon bezeichnenderweise German vote heißt."
Nicht weniger problematisch sei das, "was unsere angelsächsischen Freunde abschätzig German linguistic submissivness nennen, also den anbiedernden Verzicht auf unsere Sprache und damit auf die Chance, die europäische Entwicklung auch mit unseren Wertvorstellungen, Traditionen und Bildern zu prägen."
Auch hat nach Hubers Ansicht die Bindung der Politik durch das Recht an Wirkmächtigkeit verloren. "Vom `forget about the treaty` im Rahmen der Euro-Krise über zentrale politische Weichenstellungen auf Bundesebene, den illoyalen Vollzug von Bundesrecht durch die Verwaltung der Länder (zum Beispiel Atomrecht) – die Fälle, in denen die Politik sich über das Recht hinwegsetzt, häufen sich", schreibt der Bundesverfassungsrichter in der Zeitung.
Da es im freiheitlichen Rechtsstaat keine verbindliche Moral gebe, könne die Berufung auf individuelle Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen oder politische Opportunitätserwägungen die Abweichung vom Recht nicht rechtfertigen. Huber kritisiert auch die "inhaltliche Annäherung der großen Parteien", die dem Wähler die Möglichkeit zur Einflussnahme nähme. "Wo es keine Alternativen gibt, gibt es auch keine Wahl."
Hinzu komme, "dass das Wahlrecht, die Ausgestaltung der Politikfinanzierung, das Fehlen direkter Demokratie auf Bundesebene sowie die Organisationsstrukturen der politischen Parteien die Selbstreferentialität des politischen Systems begünstigen und die Sprachlosigkeit zwischen Bürgern und Politik verstärken. Auf Dauer gefährdet dies die Akzeptanz der verfassungsmäßigen Ordnung."
Huber rügt auch die Stärke der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag in europäischen und internationalen Angelegenheiten. "Sie erhält die Informationen aus erster Hand, während das Parlament diese nur gefiltert bekommt, sie nur begrenzt überprüfen kann und insoweit von vornherein im Hintertreffen ist."
Er fügt hinzu: "Mechanismen und Rationalitäten des Parteienstaates verschärfen diesen Befund, weil sie faktisch die Rolle der Regierung stärken – zu Lasten des einzelnen Abgeordneten." (dts/ks)
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