Bundestagspräsidentin lost heute Teilnehmer für den ersten Bürgerrat aus
Mit Unterstützung durch Moderatoren und mit Input von Experten soll der Bürgerrat Fragen zur Umwelt- und Klimaverträglichkeit, Haltungsbedingungen von Nutztieren, Produktion von Produkten, transparente Lebensmittelkennzeichnung und Lebensmittelverschwendung diskutieren. Außerdem stehen Fragen darüber an, welche Rolle der Staat im Hinblick auf Bildungsangebote in Schulen bezüglich Ernährungsthemen spielen soll, ob er steuerliche Vorgaben machen oder bei der Preisbildung eingreifen soll. Der Bürgerrat soll dem Deutschen Bundestag bis zum 29. Februar 2024 seine Handlungsempfehlungen in Form eines Bürgergutachtens vorlegen.
Auswahl-Prozedere mit Zufallsprinzip
Die Teilnehmer des Bürgerrates wurden per Zufallsprinzip ausgewählt, Mindestalter ist aber 16 Jahre und Bedingung der Wohnsitz in Deutschland.
Mitte Juni waren mithilfe der Meldeämter 20.000 zufällig bestimmte Menschen aus 84 Gemeinden unter Berücksichtigung der Bevölkerungsanteile der Bundesländer zur Teilnahme aufgefordert worden. Über zehn Prozent der Eingeladenen haben sich zurückgemeldet und Interesse bekundet. Aus diesen 2.000 Interessenten ermittelte dann ein Algorithmus 1.000 potenzielle Kandidaten für den Bürgerrat, zugrunde gelegt wurden die vom Bundestag festgelegten Kriterien Herkunft (Bundesland und Gemeindegröße), Geschlecht, Alter, Bildungsstand. „Zudem soll der Anteil der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung im Bürgerrat abgebildet werden“, heißt es auf der Website des Bundestages.
Aus diesen 1.000 Interessierten lost die Bundestagspräsidentin nun die 160 Mitglieder des neuen Bürgerrates aus. Dieser wird an drei Präsenzwochenenden in Berlin tagen, außerdem gibt es sechs digitale Abendtermine. Die Teilnehmenden erhalten laut Verwaltung 50 Euro pro digitaler Veranstaltung und 200 Euro pro Wochenende, plus Anreise und Hotel. Soweit das Prozedere.
Parlament hat entschieden: besser Bürgerrat als Volksentscheid
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages hatten am 10. Mai 2023, die Einsetzung eines Bürgerrates zum Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ beschlossen. Dem gemeinsamen Antrag von SPD, Grüne, FDP und Die Linke stimmten in namentlicher Abstimmung 402 Abgeordnete zu. 251 Parlamentarier votierten gegen die Vorlage, 12 enthielten sich.
Die AfD-Fraktion hatte am selben Tag einen Antrag mit dem Titel „Mehr Demokratie wagen – Echte Bürgerbeteiligung durch bundesweite Volksentscheide statt deliberative Bürgerräte“ eingebracht, der keine Mehrheiten unter den Parlamentariern fand, die Vorlage wurde mit 592 Nein-Stimmen bei 69 Ja-Stimmen zurückgewiesen. Die AfD hatte in ihrem Antrag für dringend geboten erklärt, „keine Bürgerräte zu schaffen, sondern stattdessen mehr und echte demokratische Beteiligung auf Bundesebene in Form von Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksabstimmungen und (fakultativen) Referenden zu schaffen.“
Mehr Demokratie oder nur Simulation davon?
Bundestagspräsidentin Birgit Bas (SPD) spielt heute „Glücksfee“ für die „Bürgerlotterie“, wie der Bundestag das Verfahren selbst nennt. Sie argumentiert: „Wir brauchen frische Ansätze, um das Vertrauen in die etablierten Institutionen zu stärken“. Der Weg, bei dem jeweils nur einige Hundert ausgeloste Bürger ein Thema beraten und dieses entscheiden, wird auch als „aleatorische Demokratie“ bezeichnet.
Konkret können die heute ausgelosten Mitglieder des Bürgerrates allerdings nichts entscheiden. Die Empfehlungen des Bürgerrates werden im Parlament behandelt. Dort wird über die Annahme, veränderte Übernahme oder Ablehnung der Bürgerrat-Vorschläge entschieden. Kurz: Nach Abschluss der parlamentarischen Beratungen entscheidet der Bundestag, wie er mit den Ergebnissen umgeht.
Unions-Parlamentsgeschäftsführer Patrick Schnieder (CDU) äußerte sich kritisch gegenüber der „Rheinische Post“: „Ich bin skeptisch, ob die Bürgerräte tatsächlich zu einer Stärkung der Demokratie führen“, denn den Mitgliedern der Bürgerräte fehle die demokratische Legitimation, „die die Abgeordneten durch die Bundestagswahl erlangen.“ Besser als jeder Bürgerrat würden die Menschen im Wahlkreis vermitteln, welche Probleme und Vorstellungen sie hätten und welche politischen Entscheidungen sie erwarten.
Eine spannende Debatte zum Thema Bürgerräte oder Volksentscheide haben vor Kurzem der Philosoph Andreas Urs Sommer und der Journalist Timo Rieg geführt. Das Magazin „der Freitag“ fasst Teile des Gesprächs zusammen. Für den in der Schweiz geborenen Sommer sind Bürgerräte nicht der richtige Weg, die Demokratie zu stärken:
Bei aleatorischen Varianten [Zufallsauswahl] haben wir wieder einen sehr eingeschränkten Entscheiderkreis und damit das gleiche Problem wie bei der repräsentativen Demokratie. Die Beratung wäre abgeladen bei den ‚Happy Few‘, die ausgelost sind, die intensive Zeit miteinander verbringen und dann besser informiert sind als ich. Der demokratische Prozess wäre wieder delegiert, und ich bin in meiner Mündigkeit nicht ernst genommen. Ich bezweifle auch das Argument der Ressourcensparsamkeit. Wir sollten das Politische nicht nur in der Entscheidung sehen, sondern vor allen Dingen im Prozess der Entscheidungsfindung. Im schweizerischen Kontext habe ich oft beobachtet, dass Leute zu Beginn einer Abstimmungskampagne eine andere Position vertreten haben als dann am Tag der Entscheidung. Dieser lange Deliberationsprozess erscheint mir sehr wichtig. Warum sollten wir darauf verzichten und ihn den ‚Happy Few‘ überlassen?“
Timo Rieg argumentiert hingegen, dass Bürgerräte durchaus sinnvoll sein können, „um über Themen entscheiden lassen, die viel zu klein, zu komplex oder sonst irgendwie ungeeignet für eine Volksabstimmung sind. Fragen, zu denen die meisten Menschen keine Meinung haben, für die sie sich auch gar nicht interessieren, irgendein Unterkapitel im Denkmalschutz oder eine Detailänderung im Steuerrecht.“
Twitter: „Eine vorsortierte Marginalie“
Auf der Kurznachrichten-Plattform Twitter wird das Thema vor allem kritisch diskutiert:
@josefmatthes1
„Es werden ja nicht die Bürger gefragt, sondern eine vorsortierte und speziell dafür ‚geschulte‘ Marginalie davon. Nur bei einer Volksabstimmung würden die Bürger gefragt. Genau dies ist aber nicht gewollt. Der Bürgerrat verfügt über keine demokratische Legitimation.“
@joanadiskurs
„#Bürgerrat: Nicht demokratisch legitimierte Leute sollen von „Experten“ beraten werden, um dann den demokratisch legitimierten Volksvertretern „Vorschläge“ zu unterbreiten. Wir haben 736 MdB: Reicht das noch nicht? Wer kontrolliert Auswahl und Verfahren? Was kostet der Stuss?“
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