Bürgerräte in Deutschland: Mehr Mitbestimmung oder gelenkte Demokratie?

Sogenannte Bürgerräte sollen nach Meinung der Ampelkoalition eine größere Rolle in der politischen Entscheidungsfindung erhalten. Man erhofft sich dadurch, Menschen zur Beteiligung zu mobilisieren, die von sich aus der Politik fernbleiben. Theorie und Praxis gehen jedoch oft auseinander.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (links, SPD) zieht zusammen mit Christine von Blanckenburg vom Nexus Institut bei der Bürgerlotterie im Deutschen Bundestag die Teilnehmenden des ersten Bürgerrates „Ernährung im Wandel“.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (l, SPD) zieht im Juli 2023 zusammen mit Christine von Blanckenburg vom Nexus Institut bei der Bürgerlotterie im Deutschen Bundestag die Teilnehmer des ersten Bürgerrates „Ernährung im Wandel“.Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Von 16. September 2024

In der Bundesrepublik Deutschland spielen direktdemokratische Elemente nur eine geringe Rolle, und im Grundgesetz wird bewusst der repräsentative Charakter der Demokratie betont. Dieser soll sicherstellen, dass sich die Erfahrungen von Weimar nicht wiederholen. Mittlerweile werden angesichts eines immer größeren Vertrauensverlustes in das politische System des Landes Wege für eine stärkere Bürgerbeteiligung diskutiert. In diesem Zusammenhang werden immer häufiger sogenannte Bürgerräte als Instrumente genannt.

Die Idee beruht darauf, durch Zufall ausgewählte Bürger am politischen Meinungsbildungsprozess zu beteiligen. Während auf die Bestimmung über Direkt- oder Listenkandidaten zu Parlamenten am Ende Parteien großen Einfluss haben, soll beim Bürgerrat ausschließlich der Zufall entscheiden.

Bürgerräte als Form der „dialogischen Bürgerbeteiligung“

Dieses Verfahren sollte gegenüber dem Parlament eine beratende Funktion haben. Die gesetzgeberischen Entscheidungen sollten jedoch die gewählten Abgeordneten treffen. Die Ampelkoalition hatte einen Ausbau der Rolle von Bürgerräten in ihrem Koalitionsvertrag verankert.

In einigen europäischen Ländern werden Bürgerräte seit bis zu 50 Jahren als Instrument der „dialogischen Bürgerbeteiligung“ zum Einsatz gebracht. Erst seit knapp 20 Jahren werden sie auch im deutschsprachigen Raum zunehmend institutionalisiert. So gibt es im österreichischen Bundesland Vorarlberg seit 2006 Bürgerräte in der Landes- und Gemeindepolitik. In Ostbelgien gibt es seit 2019 sogar eine Bürgerkammer und in Baden-Württemberg seit 2021 ein „Gesetz über die dialogische Bürgerbeteiligung“.

In Deutschland gab es bislang 2019 einen „Bürgerrat Demokratie“ – für den sich die Stadt Frankfurt am Main weigerte, Adressen zur Verfügung zu stellen. Im Jahr 2021 präsentierte ein weiterer Bürgerrat aus 160 zufälligen Personen im Schatten der Corona-Krise sein Gutachten über „Deutschlands Rolle in der Welt“. Auch dies war ein Modellprojekt, das vom Verein „Mehr Demokratie“ als extern beauftragter Einrichtung durchgeführt wurde.

Kanzler Scholz befürwortet das Instrument zur Corona-Aufarbeitung

Als erster Bürgerrat des Bundestages selbst galt der im Vorjahr einberufene Bürgerrat zum Thema „Ernährung“. Im Juni 2023 hatte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas dazu rund 19.300 zufällig ausgeloste Bürger aus 84 ebenfalls per Zufall bestimmten Gemeinden zur Teilnahme eingeladen. Von diesen zeigten allerdings nur 2.220 grundsätzliches Interesse an der Mitwirkung.

Im Juli loste Bas aus diesen jene 160 Bürger aus, die tatsächlich am Beratungsprozess teilnahmen. Der Bürgerrat präsentierte dem Bundestag Ende Februar 2024 neun Empfehlungen in diesem Bereich. Der parlamentarische Prozess zur Evaluierung und allfälligen Umsetzung dieser Empfehlungen dauert noch an.

In der Ampelkoalition betrachtet man den ersten Bürgerrat des Bundestages als Erfolg. Bundeskanzler Olaf Scholz regte an, auch zur Corona-Aufarbeitung ein solches Instrument zu nutzen.

Polarisierung entgegenwirken – mehr Partizipation ermöglichen

Die Politik erhofft sich von den sogenannten Bürgerräten eine Form von Input, der über den regulären parlamentarischen Prozess häufig ausbleiben könnte. Vor allem verspricht man sich davon eine Mobilisierung von Bürgern, die nicht von sich aus die Teilnahme am politischen Prozess suchen oder diesem sogar fernbleiben.

Bürgerräte sollen demnach eine „zusätzliche Rückkopplung des parlamentarischen Prozesses mit der Bevölkerung“ ermöglichen. Statt technokratischer Expertise oder Interessengruppen sollen mehr Menschen aus der Normalbevölkerung Erfahrungen und Wahrnehmungen aus dem Alltag einbringen.

Die Bürgerräte sollen die Partizipation von Menschen und Bevölkerungsgruppen steigern, die im parlamentarischen Prozess unterrepräsentiert sind. Dazu gehören beispielsweise Nichtakademiker oder Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Außerdem soll der Austausch innerhalb der Bürgerräte die Akzeptanz politischer Entscheidungen stärken und der Polarisierung durch gemeinsame Lösungsfindung entgegenwirken.

Realität und Wunschvorstellungen über Bürgerräte häufig nicht deckungsgleich

Kritiker argwöhnen hingegen, dass die Praxis der Bürgerräte häufig von der Theorie abweicht. Vor allem seien sie für gelenkte Demokratie anfällig. Auf dem Papier heißt es demnach, dass den zufällig ausgewählten Bürgern umfassende Expertise aus dem gesamten wissenschaftlichen und politischen Spektrum an die Hand gegeben werde. Außerdem sei das Moderationsteam, das den Beratungs- und Entscheidungsprozess anleite, neutral.

Dies konnten nicht alle Teilnehmer des Bürgerrates „Ernährung“ bestätigen. Der ausgeloste Teilnehmer Stefan Staudenecker aus Ehingen warf schon zu einem frühen Zeitpunkt das Handtuch. Er attestierte dem Moderationsteam eine stark links-grüne Schlagseite und eine Steuerung der Gespräche in diese Richtung. Dies sei mit dem Grundsatz der Ergebnisoffenheit nicht vereinbar.

Auch die Abbildung der Vielfalt der Bevölkerung sei nicht gewährleistet. Dagegen spricht bereits die Erfahrung, dass lediglich elf Prozent der Eingeladenen zum Bürgerrat „Gesundheit“ überhaupt Interesse an einer Teilnahme bekundet hatten.

Es ist davon auszugehen, dass politisch interessierte Ausgeloste und Personen mit einem entsprechenden Sendungsbewusstsein bereitwillig und freiwillig mitwirken werden. Menschen, die beruflich und familiär stark eingebunden sind und eine Teilnahme als Belastung empfinden, würden auf eine solche jedoch verzichten. Auch dies ist einer repräsentativen Auswahl der Teilnehmenden abträglich.

Bürgerrat zu „Fake-Bekämpfung“ offenbart autoritäre Tendenzen

Ein jüngst präsentiertes Gutachten eines von der Bertelsmann-Stiftung organisierten Bürgerrates hat zudem wenig zu einer Verbesserung des Images solcher Einrichtungen beigetragen. Von einigen der dort präsentierten Abstimmungsergebnisse hat sich auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser, der dieses übergeben wurde, distanziert.

Unter den 28 konkreten Handlungsempfehlungen, die das sogenannte Forum gegen Fakes präsentiert hat, fanden sich einige, deren Vereinbarkeit mit der Verfassung nicht auf den ersten Blick als ersichtlich erscheint. Unter anderem wird dort gefordert, Beiträge auf sozialen Medien einer Vorprüfung durch eine KI zu unterwerfen. Bei knapp 424.000 Teilnehmenden an einer Online-Abstimmung fand auch das Anliegen eine Mehrheit, man solle „prüfen, ob die Verbreitung von Desinformation unter Wahrung der Meinungsfreiheit strafrechtlich verfolgt werden kann“.

Außerdem trat der Bürgerrat dafür ein, die Qualität von Medien durch ein „freiwilliges, transparent gestaltetes Journalismus-Gütesiegel“ zu zertifizieren. Ein „gemeinwohlorientiertes, unabhängiges Medienhaus“ solle zudem ein „Desinformationsranking zu Aussagen von politischen Akteuren“ erstellen. So viel gut Gemeintes ging selbst Nancy Faeser zu weit. Die Ministerin erklärte kurz und knapp dazu:

„Da würde ich mich als Staat nie einmischen.“



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