Bürgergeld statt Arbeit? IfW-Studie sieht Lohnabstandsgebot verletzt

Einer Studie des IfW zufolge wäre der Bezug von Bürgergeld in manchen Konstellationen lohnender als Arbeit. Dies betrifft vor allem Geringverdiener.
Das Bürgergeld soll nach dem Willen der Ampel-Koalition die bisherige Grundsicherung Hartz IV ablösen.
Das Bürgergeld soll nach dem Willen der Ampel-Koalition die bisherige Grundsicherung Hartz IV ablösen.Foto: picture alliance / dpa
Von 4. November 2022

An dieser Stelle wird ein Podcast von Podcaster angezeigt. Bitte akzeptieren Sie mit einem Klick auf den folgenden Button die Marketing-Cookies, um den Podcast anzuhören.

Das geplante Bürgergeld, das dem ungeliebten „Hartz IV“-System bei der Grundsicherung ein Ende bereiten soll, muss wohl in den Vermittlungsausschuss. Die Union hatte angedroht, das Vorhaben im Bundesrat scheitern zu lassen. Ein nun veröffentlichtes Gutachten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) scheint ihre Bedenken zu bestätigen. Demnach würde das Konzept der Ampel-Koalition in Teilen das Lohnabstandsgebot verletzen. Dieses soll Arbeit attraktiver machen als den Bezug von Grundsicherung.

IfW: Fünfköpfige Familie hätte ohne Arbeit bis zu 884 Euro mehr

Anhand mehrerer Modell-Fallkonstellationen rechnen die Forscher Ulrich Schmidt und Denis Haak vor, wie sich das Bürgergeld auf bestimmte Haushalte auswirken würde. Wie das „Handelsblatt“ berichtet, ließen mehrere Beispielrechnungen für Hamburg aufhorchen.

Eine fünfköpfige Familie hätte mit Bürgergeld – je nach Alter der Kinder – zwischen 578 und 884 Euro mehr zur Verfügung als mit einem Alleinverdiener zum Mindestlohn. Wie häufig eine solche Konstellation in der Realität vorkommt, bleibt offen. Das IfW sieht in Modellrechnungen wie diesen jedenfalls einen Verstoß gegen das Lohnabstandsgebot.

Dieses galt bis zum Inkrafttreten des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG) am 1. Januar 2011. Es bezog sich auf Regelsätze bei Ehepaaren mit drei Kindern. Deren Anspruch auf Grundsicherung müsse geringer ausfallen, als der gleiche Haushalt mit einem vollzeitbeschäftigten Alleinverdiener erzielen würde. Als Referenzgröße galten dabei monatliche durchschnittliche Nettoarbeitsentgelte unterer Lohn- und Gehaltsgruppen.

Zwar ist die Regelung nicht mehr in Kraft. Ihr Grundgedanke dient jedoch heute noch als Orientierungsmaßstab bei der Ausgestaltung von Grundsicherungsansprüchen.

Alleinerzieher mit älteren Kindern mit Bürgergeld besser bedient

Den Forschern zufolge hätte selbst ein Zweipersonenhaushalt mit einem Beschäftigten zum Mindestlohn im Monat knapp 230 Euro weniger zur Verfügung als mit Bürgergeld. Single-Haushalte würden nur bei zwei jüngeren Kindern mit Arbeit zum Mindestlohn besser dastehen. Sind die Kinder älter, würde der Bezug von Bürgergeld knapp 168 Euro mehr für den Haushalt einbringen.

Im als Beispiel gewählten Hamburger Partnerhaushalt ohne Kinder liegt das verfügbare Nettoeinkommen durch das Ehegattensplitting nur um rund 166 Euro höher als im Singlehaushalt. Der Bürgergeld-Anspruch erhöht sich dagegen durch einen zweiten Erwachsenen im Haushalt um mehr als 600 Euro.

Aus Sicht der Union und mehrerer Verbände ist das geplante Bürgergeld deshalb ein Sammelsurium an Fehlanreizen. Mit dem Bürgergeld würde „Nichtarbeiten deutlich attraktiver“, meint CDU-Vize Carsten Linnemann. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer sieht am unteren Ende „die Grenzen zwischen regulärer Arbeit und Bürgergeld“ immer mehr verschwinden. In der „Rheinischen Post“ prognostiziert er:

Das wird dazu führen, dass sich für mehr Menschen als bisher das Nicht-Arbeiten mehr lohnt als das Arbeiten.“

Der Bürgergeld-Regelsatz für Singles soll vom derzeitigen Hartz-IV-Standard von 449 auf 502 Euro steigen. Dazu kommen Ansprüche wie jene auf Erstattung von Heizkosten und Miete – zumindest bis zu bestimmten Wohnungsgrößen.

Keine Freibeträge, kein Kindergeld, kein Wohngeld, keine Rentenbeiträge

Mit dem Bürgergeld sollen einige Härten abgefedert werden, die dem „Hartz IV“-Konzept noch zugrunde gelegen hatten. Es soll demnach eine zweijährige Übergangsphase geben, in welcher noch die vollen Kosten für bestehenden Wohnraum getragen werden. Die Notwendigkeit eines sofortigen Umzuges entfiele damit.

Praktiker sehen dies als Akzeptanz bestehender Realitäten. Vor allem in Großstädten sei es häufig gar nicht möglich, auf absehbare Zeit „Hartz-IV-sichere“ Wohnungen für Betroffene zu finden.
Außerdem sieht das Bürgergeld Erleichterungen im Bereich des Zugriffs auf bestehendes Vermögen vor. Es soll überdies mehr Spielraum für Vereinbarungen zwischen Jobcenter und Kunden bei Vermittlung und Weiterbildung geben. Ein unbedingter Vermittlungsvorrang soll wegfallen – Jobcenter können Qualifizierungsmaßnahmen bevorzugen.

Anders als Arbeitnehmer haben Bürgergeld-Empfänger jedoch keinen Anspruch auf Kindergeld und Wohngeld. Darüber hinaus gibt es keine Steuerfreibeträge und das Jobcenter entrichtet keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Die Arbeitsagentur kann Bürgergeld-Empfänger im Übrigen schon mit 63 Jahren zwangsverrenten.

Nahles: „Erfahrungen aus 17 Jahren Hartz IV verarbeitet“

Darauf verweist auch Grünen-Arbeitsmarktexpertin Beate Müller-Gemmeke, die dem IfW vorwirft, bestimmte Umstände nicht berücksichtigt zu haben. So hätten Familien mit kleinem Einkommen möglicherweise ebenfalls Anspruch auf ergänzende Grundsicherungsleistungen. Es könnte in solchen Konstellationen auch reguläres Arbeitseinkommen mit Bürgergeld aufgestockt werden:

Diese Logik gibt es heute bei Hartz IV, und diese Logik gilt natürlich auch beim Bürgergeld.“

Zudem habe, wer arbeitet, infolge der Freibetragsregelung immer mehr Geld zur Verfügung, so Müller-Gemmeke. Auch die Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA), Andrea Nahles, verteidigte am Mittwoch (1.11.) bei der Präsentation der Arbeitsmarktdaten das geplante Bürgergeld. Damit setze die Regierung Lernerfahrungen aus 17 Jahren Hartz IV um.

Die IfW-Forscher schlagen vor, Niedrigverdiener-Haushalte stärker zu unterstützen. Denkbar wäre beispielsweise, älteren Kindern ein höheres Kindergeld zu zahlen. Sollte das Haushaltseinkommen über ein gewisses Maß ansteigen, könne das Kindergeld sinken, um die Belastung der Steuerzahler gering zu halten. Außerdem empfiehlt das IfW in Haushalten mit geringem Einkommen eine bessere steuerliche Berücksichtigung des nicht arbeitenden Ehepartners.

„Focus“: Bürgergeld nur in extremen Konstellationen lukrativer

Entwarnung gibt demgegenüber der „Focus“. Dort hat ein Expertenteam eigene Berechnungen angestellt und kommt zu dem Schluss, dass es nur wenige Konstellationen gebe, in denen Bürgergeld einträglicher wäre als Arbeit.

In sieben von acht errechneten Szenarien kommen arbeitende Menschen demnach finanziell besser weg als Bürgergeld-Empfänger. Lediglich im extremen Szenario einer vierköpfigen Familie, die nur von einem Mindestlohn leben müsste, wäre es lohnender, das Bürgergeld zu kassieren. Aber selbst das wäre fraglich:

In diesem Fall würde der Staat aber noch mit weiteren Hilfen, zum Beispiel Wohngeld, unter die Arme greifen.“

Am ehesten würde sich der Bezug von Bürgergeld lohnen, wenn ein Betroffener mit sehr niedrigem Einkommen hohe Ausgaben für Miete und Heizung bestreiten müsste. Dies könnte bei sehr teuren Gasverträgen oder sehr hohen Mieten wie etwa in München zum Tragen kommen.

Nach Ablauf von zwei Jahren würde die Miete jedoch nur noch bis zu einer bestimmten Wohnungsgröße übernommen. Für eine Person wären dies maximal 50 Quadratmeter, für zwei Personen 65 und für vier Personen 95 Quadratmeter.

Bürgergeld gleicht Inflation nicht aus – höhere Löhne würden sie verschärfen

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, erklärt gegenüber dem „Deutschlandfunk“, die Konsequenz aus der IfW-Studie dürfe nicht die Senkung des Bürgergelds sein. Stattdessen solle der Lohnabstand durch bessere Entlohnung von Arbeit wiederhergestellt werden.

Dies sieht auch Stefan Körzell vom DGB ähnlich. Er äußert gegenüber der „Tagesschau“:

Kein einziger Beschäftigter hat auch nur einen Cent mehr im Geldbeutel, weil mit der beabsichtigten Einführung des Bürgergeldes die Regelsätze gering ansteigen sollen.“

Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält das Bürgergeld für zu niedrig. Es würde nicht ausreichen, um mit der Inflation und den steigenden Lebenshaltungskosten mitzuhalten.

Diese sind im Wesentlichen die Folgen von Sanktionen und einer Energiepolitik, die zu einer Angebotsverknappung geführt haben. Die Inflation ist dadurch nicht von hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften getrieben. Allerdings würden Lohnerhöhungen auf breiter Basis die Inflationsspirale in der derzeitigen Situation noch weiterdrehen.

(Mit Material von dts)



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion