Bürgergeld: Heil will wieder drastische Sanktionen – Kritiker sehen Phantomdebatte
Die Haushaltskrise – und möglicherweise auch unbelegte Behauptungen von Influencern auf TikTok – haben die Debatte um das Bürgergeld neu entfacht. CDU, AfD und FDP drängen mit Rückendeckung von Boulevardmedien auf eine Verschärfung der Regeln. Um diesen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nun eine mögliche Rückkehr zu Hartz-IV-Verhältnissen angekündigt. Vor allem soll es wieder einen größeren Druck auf Bezieher durch Sanktionen geben.
Bürgergeld sollte Unwägbarkeiten des Hartz-IV-Systems korrigieren
Ursprünglich sollte das Bürgergeld einen „Dialog auf Augenhöhe“ zwischen Jobcentern und Betroffenen ermöglichen. Es sollte die systemischen Unzulänglichkeiten von Hartz IV korrigieren und Erfahrungen aus 18 Jahren Rechnung tragen.
Das Bürgergeld sollte – anders als Hartz IV – mehr Raum für Weiterbildung ermöglichen, statt Menschen um jeden Preis schnellstmöglich in Arbeit zu bringen. Die Praxis, Betroffene auch zur Annahme von Tätigkeiten unterhalb ihrer Qualifikation zu drängen, sei ineffizient gewesen.
Der Ansatz habe eine Verschwendung von Potenzialen bewirkt, zudem habe sie einen permanenten Niedriglohnsektor geschaffen. Außerdem habe Hartz IV, so die Kritik, das soziale Gefüge unterminiert, indem man Menschen Sanktionen, die Auflösung von Ersparnissen oder den Verlust von Wohnungen in Aussicht gestellt habe.
Klagen und Einsprüche gegen Sanktionen haben häufig Erfolg
In vielen Fällen sei das System von Hartz IV auch an seine Realitätsgrenzen gestoßen. Langzeitarbeitslose blieben schwer in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren und wurden häufig in Umschulungen und Trainingsmaßnahmen versteckt. Der erzwungene Umzug in kleinere Wohnungen scheiterte häufig schon daran, dass städtische Märkte nicht genug davon hatten.
Viele von den Jobcentern verhängte Sanktionen haben sich zudem als rechtswidrig erwiesen. Im Jahr 2020 sollen 48 Prozent der Einsprüche und 70 Prozent der Klagen, die dagegen erhoben wurden, Erfolg gehabt haben. Dass knapp die Hälfte der – meist wegen Meldeversäumnissen – verhängten Sanktionen aufgehoben wurde, war auch für andere Jahre repräsentativ.
Dennoch ist die Debatte um die Grundsicherung zurück auf die politische Tagesordnung gekehrt, weil das Bürgergeld zu Beginn des Jahres um knapp zwölf Prozent erhöht werden sollte. In Zeiten der Haushaltskrise galt dies vielen als falsches Signal. Auch der Umstand, dass der Anteil ausländischer Bezieher von Hartz IV und danach Bürgergeld gestiegen ist, hat dem Thema für Teile der Bevölkerung neue Brisanz verliehen.
Zuletzt war vor allem der Anteil von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine an den Bürgergeld-Empfängern gestiegen. Da sich darunter zahlreiche alleinerziehende Frauen mit minderjährigen Kindern befinden, gestaltete sich deren Integration in den Arbeitsmarkt zäh.
Skepsis in der eigenen Fraktion und bei den Grünen
Kurz vor Ende des Vorjahres hat Minister Heil nun sogenannten Totalverweigerern scharfe Sanktionen in Aussicht gestellt. Wer jegliches Arbeitsangebot ablehne, müsse mit einer kompletten Streichung des Regelsatzes für zwei Monate rechnen, kündigte Heil an. Nur noch die Kosten für Wohnung und Heizen würden dann übernommen.
Dies sei, so heißt es aus dem Ministerium, trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das eine Kürzung von maximal 30 Prozent vorsieht, verfassungsfest möglich. Dies beträfe vor allem Fälle, in denen „hartnäckig und ohne Angabe von Gründen“ eine Arbeitsaufnahme abgelehnt werde.
Während aus Union und AfD Applaus für die Ankündigung kommt, herrscht in den Fraktionen von SPD und Grünen Skepsis. Der sozialdemokratische MdB Sebastian Roloff warnt gegenüber der „Welt“, die Partei dürfe „jetzt nicht durch die Hintertür die erreichten Fortschritte bei der Überwindung von Hartz IV“ einreißen. Der Vorschlag spare zudem wenig Geld und drücke Arbeitslosen einen Stempel auf.
Auch Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch sieht wenig Sinn in den Verschärfungsplänen:
„Über 97 Prozent der Menschen im Bürgergeld kamen 2022 überhaupt nicht mit Sanktionen in Kontakt. Von den Erwerbsfähigen waren es sogar über 99 Prozent, bei denen nie eine Sanktion infrage kam.“
Sanktionen nur für einen Bruchteil der Empfänger von Hartz IV und Bürgergeld ein Thema
Im letzten Jahr des Hartz-IV-Systems, dem Jahr 2022, hatte das Jobcenter nur noch in 148.488 Fällen gegen 99.571 Personen eine Leistungskürzung verhängt. Dies kommt einem Anteil von 2,7 der Leistungsberechtigten gleich. Im Jahr 2021 waren es noch 3,1 Prozent. Vor der Corona-Pandemie hatte es jährlich mehr als 800.000 Fälle gegeben. Im November 2019 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zum Themenkomplex der Sanktionen.
Auch eine zu Beginn der Woche präsentierte Studie der Wirtschaftsforschungsinstitute ifo und ZEW im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums legt nahe, dass es nicht primär breiter Arbeitsunwille ist, der Bürgergeld-Bezieher von der Erwerbstätigkeit abhält. Vielmehr gebe es handfeste systemische Gründe, die dazu führten, dass eine Arbeitsaufnahme Nachteile bringe.
Während Bürgergeld-Bezieher die ersten 100 Euro an Zuverdienst behalten dürften, beliefen sich die Abzüge über dieses Ausmaß hinaus auf 70 bis 100 Prozent. Dies nähre den Eindruck, für Arbeit bestraft zu werden.
„Andernfalls gleich an die Chinesen verkaufen“
Dazu komme, dass mit steigendem Einkommen, das aus Arbeit erzielt werde, die Unterstützung abseits des Bürgergeldes wegfalle – etwa durch das Ende des Kinderzuschlages. Außerdem trete zu einem bestimmten Zeitpunkt das Wohngeld an die Stelle des Bürgergeldes. Vor allem in Städten mit hohen Mieten sei dies ein Nachteil.
Auch Steuern und Sozialabgaben drückten den Belohnungseffekt der Aufnahme einer Erwerbsarbeit. Die Regeln seien zudem undurchschaubar. Wer nicht abschätzen könne, ob ihm Arbeit mehr Geld bringe, verlasse sich eher auf das Sozialsystem. Die Forscher fordern ein Ende der Zweiteilung von Wohn- und Bürgergeld sowie weniger Leistungskürzungen beim Zuverdienst.
Kritisch sieht Investor Martin Limbeck diesen Ansatz. Im „Focus“ schreibt er, es sei „blauäugig“, darauf zu vertrauen, dass eine Anpassung der Bürgergeld-Konstruktion die Arbeitswut wecke. Stattdessen subventioniere der Staat mit diesen Unternehmen, die schlechte Löhne bezahlten.
Angemessene Löhne, angepasst an die heutigen Lebenshaltungskosten und steuerliche Entlastungen für Unternehmen wie Arbeitnehmer seien der richtige Weg. Bürgergeld müsse wieder zu einer „vorübergehenden Unterstützung in Notlagen“ werden – „keine tragende Säule des Lebensunterhalts auf unbestimmte Zeit“. Anderenfalls „können wir den Laden bald dicht machen oder an die Chinesen verkaufen“.
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