Bürgergeld ab 2023: Bedingungsloses Grundeinkommen auf leisen Sohlen?
Bereits das schwarz-gelbe Kabinett Merkel II hatte es 2009 im Koalitionsvertrag verankert, die Ampel-Regierung sieht es als ein Herzstück ihres Arbeitsprogramms. Sie will das sogenannte Bürgergeld, wie das Bundesarbeitsministerium unter Minister Hubertus Heil ankündigt, 2023 endgültig in Deutschland einführen.
Es soll das 2004 von der Regierung Schröder geschaffene System des Arbeitslosengeldes II (ALG-II), besser bekannt als „Hartz IV“, ersetzen. Dennoch soll es kein Bedingungsloses Grundeinkommen darstellen.
Trotz positiver Wirtschaftsentwicklung wurde SPD für Hartz IV abgestraft
Hartz IV hatte in der Zeit seiner Einführung Angst, Zorn und Proteste in Teilen der Bevölkerung hervorgerufen. Die NPD zog nach Jahrzehnten völliger Bedeutungslosigkeit 2004 in den Sächsischen Landtag und zwei Jahre später in jenen von Mecklenburg-Vorpommern ein. Im Jahr 2005 schlossen die westdeutsche Wahlallianz WASG und die SED-Nachfolgepartei PDS ein Bündnis. Dieses führte in weiterer Folge zur bundesweiten Verankerung der Linkspartei. Für die Volkspartei SPD markierte Hartz IV den Beginn eines stetigen Niedergangs in den bundesweiten 20-Prozent-Bereich.
Wirtschaftlich entpuppten sich die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder als Erfolgsmodell. Ab Mitte der 2000er -Jahre erlebte Deutschland einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die zuvor hartnäckig im zweistelligen Prozentbereich angesiedelten Arbeitslosenquoten sanken deutlich. Nicht einmal in der Zeit der Weltfinanzkrise 2008/09 erreichten sie auch nur annähernd das Niveau der frühen 2000er.
Zwar spielten auch andere Faktoren wie die demografische Entwicklung eine Rolle bei der Verringerung der Arbeitslosigkeit – das System des „Förderns und Forderns“, auf dem Hartz IV beruhte, sorgte jedoch zumindest in Teilen des Arbeitsmarktes für eine höhere Dynamik.
Dynamik auf dem Arbeitsmarkt – und in den Jobcentern
Die Kritik an den Reformen ebbte dennoch nie ab. Man habe Deutschland zu einem Niedriglohnland gemacht, war einer der wiederholt vorgebrachten Punkte. Auch habe Hartz IV wenig an der Situation von Langzeitarbeitslosen geändert. Vielfach sei Arbeitslosigkeit hinter Trainingsmaßnahmen, Umschulungen oder Arbeitsgelegenheiten wie Ein-Euro-Jobs versteckt worden.
Zudem, so ein Vorwurf, habe Hartz IV auch das soziale Gefüge insgesamt unterminiert. Das geschah, indem es Arbeitssuchende den Launen der Jobcenter ausgeliefert und sie in einen Zustand latenter existenzieller Angst versetzt habe. Speziell die Aussicht, Ersparnisse auflösen, in kleinere Wohnungen ziehen zu müssen, oder die Folgen von Sanktionen belasteten Betroffene. Davon betroffen waren vor allem ältere Arbeitnehmer mit schlechteren Aussichten auf Vollzeitjobs. Ebenso traf dies auf Frauen zu, die infolge einer Familiengründung nicht durchgehend berufstätig waren.
Das Hartz-IV-System gilt vielen auch als ineffizient. Denn Menschen würden auch dazu gezwungen, Jobangebote anzunehmen, die unterhalb ihrer Qualifikation liegen. Das stellte dann eine Verschwendung von Potenzialen dar. Dazu kommt, dass Jobcenter häufig rechtswidrige Sanktionen verhängen. Immer mehr Einsprüche oder Klagen gegen Sanktionen der Jobcenter endeten mit Erfolgen für die Kläger. Im Jahr 2020 sollen es, wie die „Welt“ schreibt, bereits 48 Prozent der Einsprüche und 70 Prozent der Klagen gewesen sein. Diese hätten dann auch zu einer Aufhebung der Maßnahmen geführt.
Heil: Bürgergeld soll Situation für Betroffene „entstressen“
Das nunmehr ins Auge gefasste Bürgergeld soll einen „Dialog auf Augenhöhe“ zwischen den Jobcentern und den Betroffenen ermöglichen. So hatte es Bundeskanzler Scholz angekündigt. Ein Anspruch auf Bürgergeld soll demnach bestehen, wenn zum einen Bedürftigkeit besteht und zum anderen kein Leistungsanspruch auf ALG-I mehr besteht.
Das Bürgergeld soll, so die Bundesregierung, „zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen und die Würde des Einzelnen achten.“ Es soll zudem der „nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt dienen“ und unkomplizierter – künftig auch digital – zu beantragen sein.
Bundesarbeitsminister Heil zufolge soll das neue Bürgergeld die „größte Arbeitsmarktreform seit 20 Jahren“ markieren. Nämlich in einer Weise, die arbeitslosigkeitsbedingte Krisen für die Betroffenen „entstressen“ soll. Es solle zwar beim „Fördern und Fordern“ bleiben, aber zu moderateren Bedingungen.
Die Entscheidungsträger sollen bereits den Übergang von ALG-I in die Grundsicherung entschärfen. Nämlich indem eine sechsmonatige Vertrauenszeit gilt, in der eine Verringerung von Leistungen ausgeschlossen ist. Voraussetzung ist, dass Arbeitssuchende in dieser Zeit einen „Kooperationsplan“ mit dem Jobcenter abschließen.
Höhe vom Bürgergeld ab 2023 noch ungewiss
Eine wesentliche Erleichterung soll auch der Verzicht auf einen sofortigen Zugriff auf Vermögenswerte und auf die Anpassung der Wohnsituation darstellen. In den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges soll für jeden Betroffenen ein Schonvermögen von 60.000 Euro erhalten bleiben. Für jede weitere Person im Haushalt steigt die Zugriffsschwelle um weitere 30.000 Euro an. Erst nach Ende dieses Zeitraums soll das Schonvermögen auf 15.000 Euro sinken.
Ebenfalls über einen Zeitraum von zwei Jahren soll es auch keine Überprüfung der Angemessenheit von Wohnraum geben – und die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sollen in tatsächlicher Höhe anerkannt werden. Das soll auch für selbst genutztes Wohneigentum gelten. Betroffene müssen entsprechend nicht umgehend in eine kleinere Wohnung umziehen. Angesichts der in vielen Regionen angespannten Wohnungsmarktlage war eine Umsetzung der derzeit noch geltenden Wohnraumvorgaben ohnehin häufig unrealistisch.
Was die Höhe des Bürgergeldes anbelangt, wird derzeit von 470 Euro für einen Single ausgegangen. Das wären 4,6 Prozent mehr als der derzeitige Regelsatz von 449 Euro für die entsprechende Bevölkerungsgruppe. In einem ähnlichen Rahmen würden sich voraussichtlich auch die Sätze für Paare oder Kinder bewegen. Die Inflation im Juli 2022 betrug 7,5 Prozent und eine Entspannung an dieser Front ist nicht zu erwarten. Eine spürbare Verbesserung der soziokulturellen Teilhabe und der Existenzsicherung nach Einschätzung von Sozialverbänden wäre somit nicht unbedingt zu erwarten.
Neben diesem Entgegenkommen gegenüber Besitzern von Ersparnissen sieht das Bürgergeld-Konzept auch spezielle Förderprogramme für junge Menschen sowie Boni für die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten vor.
Zwischenstation zum Bedingungslosen Grundeinkommen?
Auf der anderen Seite befürchten Arbeitgeberverbände und kommunale Vereinigungen im Bürgergeld ein Bedingungsloses Grundeinkommen durch die Hintertür. Sie kritisieren, die geplanten Neuregelungen würden Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, weiter verringern – zumal der Abstand zwischen dem verbleibenden Einkommen von Geringverdienern und den Mitteln, die Bürgergeldempfängern zur freien Verfügung verblieben, auch infolge von Inflation und explodierenden Energiepreisen immer weiter sinke.
Erst jüngst erklärte der Präsident des Deutschen Landkreistags, Reinhard Sager, der Entwurf des Bundesarbeitsministeriums würde „erhebliche Fehlanreize“ beinhalten und sich vom „Fordern“ abwenden. Es gebe vor allem in Handwerk, Handel, Gastronomie, Bauindustrie oder Dienstleistungsberufen eine Vielzahl an offenen Stellen und damit „beste Bedingungen“, um viele Menschen dauerhaft und nachhaltig in den Arbeitsprozess zu integrieren.
Auch die Chefökonomin der „Welt“, Dorothea Siems, weist auf die derzeitige Arbeitsmarktsituation hin und auf die Situation der erwerbstätigen Bevölkerung, die am Ende die Ausweitung der Mittel für die Bezieher von Bürgergeld finanzieren müsse.
„Nicht nur Handwerk und Industrie können offene Stellen häufig nicht mehr besetzen“, schreibt Siems. „Auch Ungelernte im Dienstleistungsbereich werden händeringend gesucht. Dieser Personalmangel treibt die Inflation weiter in die Höhe und ist zudem für die krisengeschüttelte Wirtschaft neben den horrenden Energiekosten das größte Wachstumshemmnis.“ Es sei „schizophren“, dass die Ampel-Regierung in dieser Situation eine Reform des Hartz-IV-Bezuges vorbereite, die Anreize zur Arbeitsaufnahme verringere.
Kritik aus Baden-Württemberg: „Auch Luxusmieten übernahmefähig“
Baden-Württembergs Landesarbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut befürchtet wiederum eine Verschärfung der Wohnungsmarktsituation durch die geplante Karenzzeit bei der Angemessenheitsprüfung. Gegenüber der „Deutschen Presse-Agentur“ erklärte sie, es bestehe die Gefahr, dass „die Preise an den örtlichen Mietmärkten für Neuvermietungen noch weiter ansteigen, wenn die Jobcenter für einen so langen Zeitraum die tatsächlichen Kosten übernehmen.“
Am Ende würden „auch Wucher- und Luxusmieten […] übernahmefähig“. Die finanzielle Belastbarkeit der Stadt- und Landkreise würde durch das vorgelegte Konzept von Heil nicht angemessen berücksichtigt.
Auch wandte sich die Ministerin gegen eine ausnahmslose Abkehr vom bisherigen Ansatz, dass Betroffene zunächst alle eigenen Mittel zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit einsetzen müssten. Bezüglich des Schonvermögens solle stattdessen „ein Mechanismus zum Schutz des Vermögens eingeführt werden, der auf der Lebensleistung und der bisherigen Erwerbsbiografie basiert.“
Zurück zum Prinzip Leistung und Gegenleistung
Keine Zustimmung zu ihrem Bürgergeld-Entwurf in der jetzigen Form kann die Bundesregierung auch aus anderen Teilen der Opposition erwarten. AfD-Chef Tino Chrupalla hatte bereits im Juli im ARD-Sommergespräch gefordert, wieder zum Prinzip von Leistung und Gegenleistung zu kommen – und auf die Verpflichtung ausländischer Arbeitskräfte auf deutschen Flughäfen in der Reisezeit hingewiesen:
„Wir haben zweieinhalb Millionen Hartz IV-Empfänger, wir haben über zwei Millionen Arbeitslose – also da wird ja wohl jemand dabei sein, der die Koffer aus dem Flugzeug aufs Band legen kann.“
Die Linkspartei wiederum begrüßt den Wegfall von Hartz IV. Jedoch äußerte die Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali in einer Mitteilung, es bedürfe einer „klaren Abkehr vom schädlichen System Hartz IV.“ Das bedeute: „Das Sanktionsregime muss sofort beendet werden.“
Ali hält eine Anpassung des aktuellen Regelsatzes auf 687 Euro plus Strom und Haushaltsgeräte für angemessen. Bis dahin müssten Hartz-IV-Empfänger „umgehend 200 Euro monatlich erhalten, um die explodierenden Lebenshaltungskosten abfedern zu können.“ Widrigenfalls drohten „schlimme soziale Verwerfungen“.
(Mit Material von afp und dpa)
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