Jena im Bürgerdialog: 55 Bürger im Gespräch mit Merkel + Video
Zum ersten Mal nach ihrem Sommerurlaub und der Unionskrise stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) 15 Uhr in Jena am 14. August 2018 den Fragen von Bürgern.
Dabei sollte es vor allem um drei Leitfragen gehen: Wie erleben Bürger Europa in ihrem Alltag? Welche Rolle spielt Europa für Deutschland insgesamt? Wie sollte Europa in Zukunft aussehen?
Die Krise der Union, der Streit über die Migrationspolitik holt Angela Merkel im Gespräch nur kurz ein. Ein Mann fragt die Kanzlerin, wie Migranten in Deutschland integriert werden sollen. Seehofers umstrittener Masterplan beschäftige sich ja nur mit Sanktionen gegen Migranten.
Der Masterplan Seehofers „enthält ja im Grunde nur die Dinge, die noch nicht ausreichend gelöst sind“, sagt Merkel ziemlich knapp und schwenkt dann auf Europa um. Denn um Europa soll es eigentlich gehen bei diesem Treffen mit Bürgern.
Die Migrationspolitik, das macht die Kanzlerin noch einmal unmissverständlich klar – ist für sie ein europäisches Thema. Wer will, kann in dieser Grundmelodie Merkels eine leise Spitze gegen ihren Innenminister hören. Er hatte den frühsommerlichen Streit mit seiner Forderung nach einem nationalen Alleingang bei Zurückweisungen von Migranten an der deutschen Grenze ausgelöst.
Teilnehmer wurden im Losverfahren ausgewählt
Die Teilnehmer zum Bürgerdialog konnten sich online im Juli bewerben und 55 von ihnen wurden in einem Losverfahren ausgewählt. Ein Reporter von Epoch Times vor Ort bemerkte, das rund die Hälfte der Ortsansässigen wussten, dass die Kanzlerin heute vor Ort war. Sie erfuhren es meist aus der Regionalzeitung oder über Radio – vor ein, zwei Tagen. In Gesprächen mit den Menschen erfuhr er zu den drei Fragen der Kanzlerin:
Europa spielt laut den Befragten vor allem wirtschaftlich eine Rolle für Deutschland: „Internationale Logistik“ und „keine Handelshindernisse“ waren die Schwerpunkte. „Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen“, ergänzte ein Passant. Für die meisten ist Europa in ihrem Alltag „nicht spürbar“.
Bis Oktober finden über Deutschland verteilt mehrere Bürgerdialoge der Kanzlerin statt, aber auch weiterer Mitglieder der Bundesregierung. Auch die Europäische Kommission will über ein Online-Portal Bürgernähe herstellen. Unter Konsultationen zur Zukunft Europas kann man für die Länder der EU aktuelle „Bürgerdialoge“ erreichen und teilnehmen.
„Europa ist mühsam“
„Europa ist mühsam“, sagt die Kanzlerin und wirbt mit einem einfachen Beispiel um Verständnis. „Wenn Sie zu Hause in der Familie diskutieren, was Sie zum Mittagessen kochen, ist es manchmal schon schwer“, sagt sie – um zu demonstrieren, wie schwer es ist, sich unter 28 EU-Ländern zu einigen. Und ja, ärgerlich sei es schon, wenn manche sich dann nicht an Vereinbarungen hielten.
„Als Politikerin verbinde ich lange Nächte mit Europa“, sagt Merkel auf die Frage nach ihren persönlichen Erfahrungen und muss schmunzeln. In den Beratungen dauere es oft lange, bis es eine Einigung gebe. Als Bürgerin verbinde sie aber auch ein großes Sicherheitsgefühl mit der EU. Man wisse, dass man sich nicht auf vollkommen unbekanntem Terrain befinde.
Warum bezahlt man die Türkei?
Merkel muss sich auch kritische Fragen anhören, etwa die einer Frau, die beklagt, dass man die Türkei dafür bezahle, dass weniger Flüchtlinge nach Europa kämen. Die Kanzlerin betont daraufhin die Bedeutung des Außengrenzenschutzes der EU. Viele der Menschen, die wegen des Krieges im Nachbarland Syrien in die Türkei geflüchtet seien, wollten gar nicht nach Deutschland, sondern zurück in ihre Heimat, wenn der Krieg beendet sei. Deswegen sei es doch in beiderseitigem Interesse, der Türkei bei der Versorgung der Migranten und Flüchtlinge zu helfen, damit diese in der Nähe ihrer Heimat blieben und nicht nach Europa weiter wanderten.
Als ein junger, angehender Landwirt aus Jena die Kanzlerin mit Fragen zur Agrarpolitik löchert, muss Merkel durchatmen. „Die Lebensmittelpreise sind so gering wie nie, und immer mehr Landwirte gehen Pleite“, klagt der 18 Jahre alte Friedrich Seibt. Ihn ärgert die Macht der großen Handelskonzerne, die seiner Meinung nach den Bauern die Preise für ihre Produkte verderben. Die Kanzlerin zeigt Verständnis. „Man sollte den kleinen Betrieben eine faire Chance geben“, sagt sie. Aber Kartellbehörden seien unabhängig und würden festlegen, wann jemand eine marktbeherrschende Stellung habe.
Oft ist Merkel in der Vergangenheit vorgehalten worden, ihre Politik zu wenig dem Volk zu erklären. Als eine Frau aus einer Kleinstadt bei Jena beklagt, die meisten Menschen würden schon im Schlaf mit Europa Begriffe wie Flüchtlingskrise, Festung Europa und Hilfen für Griechenland verbinden, nickt Merkel. Ihr fehle in der deutschen Politik die Vision und die Leidenschaft, den europäischen Gedanken dem Bürger nahe zu bringen, sagt die Frau. Es sei ja schön, über Merkels Auseinandersetzungen mit Seehofer zu lesen, „aber irgendwann auch ermüdend“.
Mit ihrem Verstand sei sie ganz bei Merkels „unaufgeregtem Pragmatismus, auch die Dinge zu lösen“, ergänzt die Fragestellerin. „Aber mit meinem Herzen und mit meinen Gefühlen bei den Visionen und Leidenschaften eines Emmanuel Macron“, des französischen Präsidenten. Da wünsche sie sich auch von der deutschen Politik, den europäischen Gedanken den Bürgern leidenschaftlicher nahezubringen.
Dabei hatte Merkel den Auftritt schon in der halben Stunde vorher für ein für ihre Verhältnisse leidenschaftliches Plädoyer für ihr Herzensprojekt Europa genutzt. Nachdem die ältere Generation Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch als Friedensantwort begriffen habe, sei für die jungen Menschen Frieden in Europa selbstverständlich geworden. „Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht leichtfertig werden. (…) Ich kann uns nur raten, dass wir Europa auch als Schatz begreifen.“ Das Friedenswerk Europa dürfe nicht gefährdet und von Generation zu Generation wieder erarbeitet werden.
LIVE: Merkel veranstaltet Bürgerdialog in Jena
https://www.youtube.com/watch?v=Z8K9Y_l93nA
Kindergeld auf EU-Ebene
In der Debatte über Kindergeldzahlungen für im Ausland lebende Kinder hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angekündigt, das Thema auf EU-Ebene weiter vorantreiben zu wollen. In Deutschland werde für 15 Millionen Kinder Kindergeld gezahlt, davon lebten etwa 270.000 im Ausland und wiederum 30.000 davon seien deutsch.
„Es ist ein wachsendes Problem, aber nicht das vorherrschende Thema“, sagte die Kanzlerin angesichts der teils erregten Debatte in Deutschland in den vergangenen Tagen. „Wir haben fast mehr Sorgen mit dem Missbrauch der Freizügigkeit“, fügte sie hinzu. So würden Menschen „zu unsäglichen Bedingungen“ nach Deutschland in heruntergekommene Immobilien im Ruhrgebiet gelockt, wo dann „eigentlich in jede Richtung Schindluder betrieben wird“. Diesem Missbrauch müsse nachgegangen werden, mahnte Merkel.
Die Zahl der im EU-Ausland lebenden Kinder, die Kindergeld aus Deutschland erhalten, ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Das weckt Befürchtungen, dass Menschen beispielsweise aus osteuropäischen Ländern gezielt nach Deutschland kommen, um das hiesige und für ihre Verhältnisse hohe Kindergeld zu erhalten.
Die Bundesregierung hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode erwogen, die Kindergeldzahlungen an die Lebenshaltungskosten in den jeweiligen Ländern anzupassen.
Allerdings verzichtete sie schließlich wegen rechtlicher Bedenken darauf. Die EU-Kommission ist gegen eine solche Indexierung und hält sie für nicht mit EU-Recht vereinbar. Aufgrund der kürzlich bekannt gewordenen Zahlen zu den Kindergeldzahlungen ins Ausland ist die Debatte über eine Indexierung jedoch erneut in vollem Gange.
Merkel verteidigt europäischen Ansatz zur Migrationspolitik
Bei der Veranstaltung hat Merkel ihren europäischen Ansatz in der Migrationspolitik verteidigt.
Beispielsweise arbeite die Bundesregierung in dem afrikanischen Durchgangsland Niger bei der Bekämpfung des Schlepperwesens mittlerweile mit Italien, Frankreich und der Europäischen Kommission zusammen, sagte Merkel am Dienstag in der Bürgerfragerunde zur Europapolitik. Merkel empfängt an diesem Mittwoch den Präsidenten der Republik Niger, Issoufou Mahamadou, im Gästehaus der Bundesregierung in Meseberg nördlich von Berlin.
Merkel verteidigte erneut das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. „Das ist ein Geben und Nehmen“, sagte sie auf die Bemerkung einer Teilnehmerin, dass man die Türkei dafür bezahle, dass weniger Flüchtlinge nach Europa kämen.
Die Kanzlerin betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Außengrenzenschutzes der EU. Viele der Menschen, die wegen des Krieges im Nachbarland Syrien in die Türkei geflüchtet seien, wollten gar nicht nach Deutschland, sondern zurück in ihre Heimat, wenn der Krieg beendet sei.
Es sei in beiderseitigem Interesse, der Türkei bei der Versorgung der Migranten und Flüchtlinge zu helfen, damit diese in der Nähe ihrer Heimat blieben und nicht nach Europa weiter wanderten.
Partnerschaft mit Afrika
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich für eine enge Partnerschaft mit Afrika aus, um die Migration nach Europa zu steuern. Das Ziel müssten Vereinbarungen sein, mit denen „beide Seiten gewinnen“. „Wir, weil wir nicht alle Flüchtlinge aufnehmen können und wollen. Und die anderen aber auch, weil sie für ihre Jugend Perspektiven sehen.“
Merkel zufolge könnten die afrikanischen Länder die Migranten zurücknehmen, die nicht rechtmäßig nach Europa gekommen seien und kein Asyl bekämen. „Aber wir sind dafür bereit, auch Studienplätze zur Verfügung zu stellen oder Arbeitsvisa zur Verfügung zu stellen“, sagte die Kanzlerin. Auch Ausbildungsplätze in Europa oder in den Herkunftsstaaten der Migranten seien eine Möglichkeit.
Merkel räumte ein, dass es „ziemlich harte Arbeit“ sein werde, solche Vereinbarungen zu schließen. „Denn Afrika hat 53 Länder.“ Die Kanzlerin betonte jedoch die Notwendigkeit solcher Abkommen: „Von Sizilien aus ist Afrika ziemlich nah“ – und die Menschen dort wüssten über ihre Smartphones über das Leben in Europa Bescheid. Europa müsse daher im eigenen Interesse alles tun, „damit sich dieser Kontinent vernünftig entwickelt“, fügte Merkel hinzu.
Skepsis gegenüber Euro-Finanzminister
Für einen gemeinsamen Euro-Finanzminister müssten neue parlamentarische Strukturen zur Kontrolle in der EU geschaffen werden, sagte sie am Dienstag in der Fragerunde – das EU-Parlament ist für die Kontrolle des gesamten EU-Haushalts zuständig.
Offen zeigte sich Merkel aber erneut für die Einrichtung eines gesonderten Euro-Haushalts. „Unter bestimmten Bedingungen kann ich mir das vorstellen“, sagte die Kanzlerin.
Sie nannte hier etwa die Integration eines solchen Extra-Etats in den EU-Haushalt. Dann könne sich das EU-Parlament auch damit befassen. Ein Euro-Haushalt könne auch dazu beitragen, dass sich die Wirtschaftskraft in den Ländern der gemeinsamen Währung weiter annähere.
(dpa/afp/rls)
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion