Brandenburg: Schulprojekt zu Enteignung und Vertreibung fasziniert Schüler

„Schüler sollen sehen, was Diktatur bewirkt“, so der Initiator eines Schulprojektes, Manfred Graf von Schwerin. Schüler würden in frühere Konzentrationslager gefahren, um die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, was wichtig sei. Aber was 40 Jahre Kommunismus angerichtet hätten, gehe unter, beklagt der Bundesvorsitzende der Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum.
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Das Gottfried-Arnold-Gymnasium in Perleberg (Brandenburg).Foto: Erik Rusch/Epoch Times
Von 26. März 2024

Das Gottfried-Arnold-Gymnasium in Perleberg liegt in der Prignitz, einem Landkreis und einer historischen Landschaft in Brandenburg auf dem halben Weg zwischen Hamburg und Berlin.

Die Schule empfängt ihre Besucher in einem erstaunlich gut erhaltenen zweigeschossigen Backsteinbau in kräftigem Dunkelrot. Das 1864 als Realgymnasium in historisierendem gotischen Stil erbaute Gebäude hat stürmische Zeiten überstanden.

Die Oberstufenschüler hier bekamen vor Kurzem die Möglichkeit für eine Reise in die jüngere deutsche Geschichte der Region. Durch Zeitzeugen erlebten sie die Zeit der Bodenreform unter sowjetischer Besatzung von 1945 bis 1949 und die spätere Zwangskollektivierungen und Zwangsumsiedlungen unter dem DDR-Regime.

Die Bodenreform stellte eine sozialistische Kampagne zur Enteignung der damaligen Großgrundbesitzer dar, die der Vertreibung und Enteignung des Landadels und der Großbauern diente.

Dabei ging es um die gewaltsame Zerschlagung der ursprünglichen landwirtschaftlichen Betriebe, um sie nach sozialistischem Vorbild der Sowjetunion zu großflächigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) zusammenzuführen.

„Einschüchterung der Mehrheit“

Der Zwölftklässler Edgar Stütz (19) war einer der Oberstufenschüler, die an dem Zeitzeugenprojekt teilnahmen. Der Zeitzeuge seiner Arbeitsgruppe kam zufälligerweise aus Lenzen (Elbe), seinem Heimatort.

Ernst-Otto Schönemann (82) hat die Zwangsaussiedlungswelle von 1961 als Betroffener persönlich erlebt. Gegenüber Epoch Times erklärte er: „Die Grenze sollte 1961 noch stärker abgesichert werden. Da waren Menschen, die im Grenzgebiet wohnten und dem System nicht passten. Ein wichtiger Punkt war: ‚Wir zwingen einige da raus und die anderen kriegen Angst und sind dann vorsichtiger und trauen sich nicht zu flüchten oder aufzumucken.‘ Also die Einschüchterung der Mehrheit und das Loswerden von Leuten, die man nicht mehr haben will.“

Die innerdeutsche Grenze teilte Dörfer und Familien, ja ein ganzes Land. Foto: iStock

Schönemann berichtet davon, dass viele Wunden der damaligen Zeit bei den Menschen in der Prignitz bis heute nicht geheilt seien: „Nirgends ist diese durch die SED verursachte Trennung bis heute so stark zu spüren wie hier.“

Linientreue neu zugewanderte Nachbarn hätten sich das Eigentum der Zwangsausgesiedelten – Geschäfte, Land, Ernteerträge oder Maschinen – unter den Nagel gerissen. Bei Schönemann ist noch die Wut und Trauer zu spüren, die der Verlust verursachte.

Er ist Sprecher der Interessengemeinschaft Zwangsausgesiedelter Sachsen-Anhalt und ein Ehrenvorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft.

Eine neue Perspektive für Schüler

In Edgar Schütz‘ Familie spielt das Thema hingegen keine Rolle mehr. „Aber ich kann mir vorstellen, dass eine Enteignung für Familien, für die die Bewirtschaftung eigener Ländereien Teil der Familienkultur war, sehr einschneidend war.“

Schönemann berichtete gegenüber Epoch Times, dass seine Eltern in Lenzen erfolgreich ein Geschäft mit großem Sortiment führten und enge Beziehungen zu zahlreichen Bauern im Ort und in den umliegenden Dörfern entwickelt hatten.

„Diese Kunden, Freunde und Bekannte, kamen, um von ihren Sorgen und ihrem Leid durch die LPG-Zwangskollektivierungsaktion von 1959 zu berichten. Bei meinen Eltern konnten sie offen über ihre Situation sprechen. Das haben die SED-Genossen und die Stasi nicht übersehen.“

Vier Stunden Zeit, um Haus und Hof zu verlassen

„Wir sind also morgens am 3. Oktober 1961 von dem Klingeln an der Haustür aufgewacht. Dort standen sechs bis acht Menschen vor uns, ein uniformierter Polizist und dann Vertreter von Stasi und Partei.“

„Es hieß dann: ‚Sie haben zu Ihrer eigenen Sicherheit innerhalb von vier Stunden das Grenzgebiet zu verlassen. Ihre sämtlichen Lager, also das Elektro- und Klempnereilager, die Werkstätten und die gesamten Geschäfte mit allen Waren sind bereits konfisziert. Sie dürfen nur Ihre privaten Sachen aus der Wohnung mitnehmen.‘“ Schönemann war zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt, seine Eltern in den Sechzigern.

Meine Mutter war in der ersten Stunde völlig unfähig, etwas zu tun.“

Die gesamte Vorbereitung dieser Enteignungsaktion habe unter höchster Geheimhaltung der Stasi stattgefunden, berichtet der Wahlberliner weiter. „Wir wurden dann rund 80 Kilometer entfernt in ein Haus gebracht, das mehrere Jahre als Getreidelager diente. Es gab dort kein Wasser, keine Toiletten. Dafür war das Haus voller Ratten. Wohnen war unmöglich.“

Das Wohn- und Geschäftshaus der Familie Schönemann in Lenzen (Elbe), Brandenburg, um 1959/60. Vor dem Geschäft steht der Vater (an der Tür) und der Sohn Ernst-Otto Schönemann (mit Fahrrad). Foto: Mit freundlichen Genehmigung von Ernst-Otto Schönemann

Vielen fehlt bis heute ein Stück Heimat

Die Eltern bauten sich mühsam eine neue Existenz auf und bekamen nach einem halben Jahr nur für das enteignete Lagerinventar und die Werkstätten eine staatliche Entschädigung. Diese machte jedoch nur die Hälfte des tatsächlichen Wertes aus, so Schönemann.

Zahlreiche Menschen stellten nach der Wiedervereinigung 1989/90 einen Antrag auf Rückführung oder Wiedergutmachung oder klagten. Aber nur in einem Bruchteil der Fälle wurde der ursprüngliche Besitz den Alteigentümern zurückgegeben. Der großen Mehrheit dieser Menschen – gerade denen, die in den Westen flüchteten – fehlt bis heute ein Stück Heimat.

Zwölftklässler Edgar Schütz fand es faszinierend, über persönliche Schicksalsschläge zu lernen. Es sei bereichernd gewesen, zu erfahren, wie das Erlebte die einzelnen Familien veränderte und die Nachfahren versuchten, das Familienerbe weiterzuführen. „Die Einblicke, die ich direkt von den Zeitzeugen bekam, haben das Grundwissen aus dem Unterricht auf interessante Weise vertieft“, so der Schulsprecher.

Gleichzeitig erhielt der Unterrichtsstoff durch die Vorträge einen regionalen Bezug: „Was im Unterricht behandelt wurde, holten die Zeitzeugen in die eigene Region.“

Prignitz – eine besondere Region

Der Schulleiter des Gottfried-Arnold-Gymnasiums in Perleberg, Prof. Dr. Felix Mundt, erklärt, dass Enteignung und Vertreibung Teil des Lehrplans in der Oberstufe über die deutsch-deutsche Geschichte seien. Die Region der Prignitz mit ihrem geschichtlichen Hintergrund biete sich dazu an, das Thema Enteignung stärker zu vertiefen.

Dabei spielt Mundt darauf an, dass in der Prignitz die in der gesamten Sowjetischen Besetzungszone (SBZ) durchgeführte Großbesitzenteignung – genannt „Bodenreform“ – begann. Der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck rief sie am 2. September 1945 in der Kleinstadt Kyritz aus. Innerhalb eines Jahres wurden alle Großgrundbesitzer entschädigungslos enteignet und die Flächen an Kleinbauern übergeben.

In der Prignitz war der landwirtschaftliche Besitz des Adels im Vergleich großflächiger als im übrigen Deutschland. Fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung waren in der Land- und Forstwirtschaft tätig.

Schloss Lohm in Brandenburg. Foto: Matthias Kehrein/Epoch Times

Manche verbinden mit Enteignung Positives

„Hier gibt es Familien, die Erinnerungen in beide Richtungen haben“, so Mundt. Es gebe Schüler, deren Großeltern oder Urgroßeltern enteignet worden seien. Andere Familien verbänden positive Gedanken mit der damaligen Zeit. „Ihre Großeltern oder Urgroßeltern kamen als mittellose Heimatvertriebene durch die enteigneten Flächen zu neuem Besitz.“ Mit kleinen Parzellen hätten diese Flüchtlinge angefangen, sich eine neue Existenz aufzubauen.

Dabei gehe es auch um große gesellschaftliche Fragen – wie Sozialismus versus marktwirtschaftliche Ordnung, so der Schulleiter.

„Dank der Zeitzeugenberichte bleibt die Unterrichtsdiskussion nicht auf der theoretischen Ebene“.

Der Schulleiter Prof. Dr. Felix Mundt des Gottfried-Arnold-Gymnasiums in Perleberg (Brandenburg). Foto: Erik Rusch/Epoch Times

Er selbst zeigt sich betroffen davon, dass die Enteignung in Form der Kollektivierung der Landwirtschaft auch ein Kulturbruch war.

„Da wurde in den alten Gutshöfen wirklich böse gehaust. Kunstwerke wurden auf den Misthaufen geworfen und ganze Bibliotheken verbrannt in dem damaligen Furor aus Hass auf die alten Großgrundbesitzer.“ Mit der Zerstörung, aber auch mit der Flucht der Adelsfamilien in den Westen sei ein Kulturschatz und viel kulturelles Wissen abgewandert.

Prignitz – strukturschwach und dünn besiedelt

Das hatte fatale Folgen. Prignitz weist heute die geringste Bevölkerungsdichte aller Landkreise auf und ist eines der strukturschwächsten Regionen der gesamten Bundesrepublik.

Mundt berichtet, dass in der Prignitz von vielen Gutshäusern nur noch Ruinen übrig geblieben seien. Andere seien in einem bejammernswerten Zustand. „Wenn sie noch intakt wären, hätte man dort die schönsten Bibliotheken und zusätzlich wertvolle kulturelle Geschichtszeugnisse“, ist sich der Geschichtslehrer sicher. „Die Enteignung hat nachhaltig die Kultur in der Prignitz zerstört.“

Hinter dem Projekt an den Brandenburger Schulen steht Manfred Graf von Schwerin. Er ist Bundesvorsitzender der Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum e. V. Sie bündelt mehrere Opfer- und Geschädigtenverbände, Gruppen und Einzelpersonen der SBZ-/DDR-Diktatur im In- und Ausland und hat sich unter anderem der Geschichtsaufarbeitung und der Erinnerungskultur verschrieben.

Graf von Schwerin

Manfred Graf von Schwerin. Foto: Mit freundlichen Genehmigung von Manfred Graf von Schwerin

Ausgangspunkt für das Schulprojekt war die Erfahrung des Grafen, dass viele Schüler aber auch Lehrer oft nur wenig zum Thema Enteignung und Vertreibung in der SBZ und DDR wissen.

„Schüler sollen sehen, was Diktatur bewirkt“

„Schüler sollen sehen, was Diktatur bewirkt“, so der gelernte Werbekaufmann. Schüler würden in frühere Konzentrationslager bis nach Auschwitz und Buchenwald gefahren, um die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, was wichtig sei. Aber was 40 Jahre Kommunismus angerichtet hätten, ginge unter.

Die Enteignung und Vertreibung in der SBZ und der DDR habe in neuen Bundesländern bis heute enorme Auswirkungen, aber dieses Thema werde in den Schulen nur schwerpunktmäßig behandelt.

Bei einem Vortrag in der Region vor Schülern stellte er fest, dass rund zwei Drittel der Zuhörer Verwandte oder Großeltern hatten, die von der Zwangskollektivierung und den LPG-Gründungen betroffen waren. Oft würden die Verwandten oder Großeltern zu Hause nicht darüber sprechen wollen.

„Es sollten die alten Wunden nicht ignoriert und darauf gewartet werden, bis alle Zeitzeugen verstorben sind.“



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