Boomer als Systemsprenger? Zukunft der sozialen Pflegeversicherung ungewiss

Überalterung und Arbeitskräftemangel stellen die Pflege in Deutschland vor ungelöste Zukunftsfragen. Das Bundeskabinett diskutiert derzeit über Wege zur Stabilisierung der sozialen Pflegeversicherung. Verbände und DGB fordern eine Bürgerversicherung in diesem Bereich.
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Pflegebedürftige müssen für die Betreuung im Heim trotz Pflegeversicherung immer mehr aus eigener Tasche zuzahlen.Foto: Marcel Kusch/dpa/dpa
Von 3. Juli 2024

Im Bundeskabinett steht am Mittwoch, 3. Juli, die Debatte über eine Sicherung der Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung auf der Tagesordnung. Es liegt der Entwurf zu einem Pflegebericht vor, dem zufolge langfristig mit einer durchschnittlichen Finanzierungslücke von durchschnittlich 24 Milliarden Euro jährlich in der Pflege auszugehen sei. Bis Ende des Jahres soll der Bericht veröffentlicht werden.

Derzeit geht der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen in der sozialen Pflegeversicherung von einem Minus von 1,5 Milliarden Euro aus. Im nächsten Jahr werde dieser bereits 3,4 Milliarden Euro betragen. Um den Fehlbetrag abzudecken, müssten die Beiträge um 0,2 Punkte angehoben werden – oder die Eigenbeteiligungen weiter steigen.

Verbände fordern verpflichtende Pflegeversicherung für alle

Diese liegen jedoch bereits jetzt für Pflegebedürftige in stationärer Versorgung bei rund 2.700 Euro, was die durchschnittlichen Einkünfte älterer Menschen oder auch Angehöriger in erheblichem Maße übersteigt. Bereits jetzt ist Angaben von Sozialverbänden zufolge fast ein Drittel aller in Heimen untergebrachten Pflegebedürftigen auf Sozialhilfe angewiesen.

Vor diesem Hintergrund fordert der Paritätische Gesamtverband eine sogenannte solidarische Vollversicherung. Darunter versteht der Verband, dass diese Versicherung alle Kosten im Kontext der Pflege anfallenden Kosten abdecken soll. Gleichzeitig sollen alle Bürger in diese Versicherung einzahlen – und es sollen die Höchstbeitragsbemessungsgrenzen wegfallen.

Umfragen zufolge wünschen sich bis zu 81 Prozent der Deutschen einen solchen Ausbau. Nur 14 Prozent halten es für die bessere Lösung, einen Grundstandard in der Pflege über eine Pflichtversicherung abzudecken – und darüber hinaus privat vorzubauen.

Bereits für 2025 deutlich höhere Beiträge erwartet

In ein ähnliches Horn stoßen der Caritasverband, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Sozialverband VdK. Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, spricht gegenüber der Funke-Mediengruppe von „erheblichem demografischem und sozialem Sprengstoff“, der sich mit Blick auf die Zukunft der Pflege ansammele. Die Bundesregierung dürfe „diese Riesenaufgabe nicht einfach in die nächste Legislaturperiode schieben“.

Welskop-Deffaa fordert eine stärkere Belastung Wohlhabender angesichts der sich abzeichnenden Kostenbelastung durch die Babyboomer. Leistungsfähige Senioren solidarisch zu beteiligen, gehöre zu einem „fairen Risikoausgleich“. Derzeit werde deren Vermögen durch die Pflegeversicherung in zu hohem Maße geschont.

Vonseiten des DGB forderte Vorstandsmitglied Anja Piel eine sogenannte Pflegebürgerversicherung. In diese sollen mehr Menschen einzahlen, sie solle alle Pflegekosten tragen und im Gegenzug soll es keine Eigenanteile geben. Besonders diese wüchsen derzeit ins Unermessliche.

Der VdK will auch Beamte, Abgeordnete und Selbstständige zur Beteiligung an einer solidarischen Pflegeversicherung verpflichten. Andernfalls drohten Leistungseinschränkungen und stetig steigende Beiträge. Bereits für 2025 wird mit solchen gerechnet. Wirtschaftsverbände befürchten perspektivisch eine vor allem durch die Kosten für die Gesundheit und Pflege bedingte Ausweitung der Sozialbeiträge auf bis zu 50 Prozent des Bruttolohns.

Solidarische Vollversicherung würde nur kurzfristig Entlastung bringen

Im Bericht, den das Bundeskabinett diskutiert, ist zum einen von den Corona-bedingten finanziellen Belastungen die Rede, die einen erheblichen Belastungsschub für die soziale Pflegeversicherung bewirkt habe. Zum anderen ist von einem „anhaltend starken Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen“ die Rede. Dieser gehe „weit über das allein aus der demografischen Entwicklung erwartbare Maß hinaus“.

Noch gar nicht eingepreist sind dabei Probleme wie der Fach- und auch Hilfskräftemangel in der Pflege. Dieser war bereits in der Corona-Zeit so gravierend, dass sich viele Einrichtungen gezwungen sahen, die temporär geltende einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht umzusetzen. Neben der Arbeitsagentur bemühen sich mittlerweile immer mehr private Agenturen um eine Anwerbung von Pflegekräften aus Drittstaaten.

Die Einbeziehung aller in Deutschland Erwerbstätigen in eine solidarische Pflegeversicherung würde kurzfristig zweifellos eine Entlastung der Pflegekassen bewirken. Auf lange Sicht gesehen blieben dennoch Fragen zur dauerhaften Finanzierung offen. Neben immer mehr und aufgrund höherer Standards immer kostspieligerer Pflegeleistungen für immer mehr ältere Menschen müssen auch die Löhne und Gehälter des Pflegepersonals bezahlt werden. Dazu kommen die Kosten für die Pflegeinfrastruktur selbst.

Selbst gleichbleibende Leistungen würden dem Bericht zufolge aufgrund der demografischen Entwicklung höhere Beiträge verlangen. Andernfalls liefen Ausgaben und Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung stetig weiter auseinander – obwohl diese nur einen Teil der Pflegekosten abdeckt.

Derzeit liegen vier Modelle zur Zukunft der Pflegeversicherung vor

In der Bundesregierung werden derzeit vor allem vier mögliche Modelle diskutiert, um einem Kollaps der sozialen Pflegeversicherung gegenzusteuern. Das erste davon orientiert sich am Status quo, will aber eine Möglichkeit schaffen, in geförderter Weise für Leistungen, die über das übernommene Maß hinausgehen, privat vorzusorgen. Ein zweites Szenario sieht eine Pflicht für Versicherte vor, ergänzend Geld in eine private Pflegezusatzversicherung einzubezahlen. Die Modelle drei und vier laufen auf höhere Kostenübernahmen und geringere Eigenanteile hinaus – wie dies auch der DGB und die Sozialverbände fordern. Die Pflegeversicherung würde so zur Vollkaskoversicherung.

Die Positionen der Ampelpartner dazu liegen weit auseinander. Bundeskanzler Olaf Scholz stellt dennoch Weichenstellungen noch in dieser Legislaturperiode in Aussicht. Derzeit sind in Deutschland etwa 5,2 Millionen Menschen pflegebedürftig. Die meisten von ihnen werden zu Hause von Angehörigen oder ambulanten Pflegediensten gepflegt. Ein kleinerer Teil ist in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht.



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