Bildungssystem vielerorts am Anschlag – „keine nachhaltigen Konzepte“ bei Integration
Eines wird ganz großgeschrieben im deutschen Bildungssystem: das Wort Mangel. Das offenbart der am Montag in Berlin vorgestellte Bericht „Bildung in Deutschland“. So fehlt es an Fachpersonal und Geld. Die Zuwanderung und Digitalisierung bereiten große Probleme, die Schulleistungen stagnieren, teilweise sinken sie sogar. Auch fehlt es an Angeboten.
So übertrifft die Nachfrage diese in manchen Bereichen. Zu diesem Schluss kommen die Autoren des Berichts, den das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) erstellt hat. Der nationale Bildungsbericht wird alle zwei Jahre erstellt. Basis für die Ausarbeitung sind dem DIPF zufolge amtliche Statistiken, Studien und sozialwissenschaftliche Erhebungen.
Es fehlen Konzepte zur Bewältigung von Problemen
Professor Dr. Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des DIPF und Sprecher der für den Bildungsbericht verantwortlichen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sieht das System „vielerorts bereits am Anschlag“. Grund dafür seien neben dem Mangel an qualifiziertem Personal stetige Aus- und Umbaumaßnahmen.
Zusätzlicher Druck entstünde durch „weitreichende Entwicklungen“. Maaz nennt in dem Zusammenhang die Integration von Flüchtlingen. Sie stellten inzwischen eine „Daueraufgabe und große Herausforderung dar, für die es bislang keine nachhaltigen Konzepte gibt“. Nach Ansicht der Wissenschaftler müssten außerdem Bildungsprozesse vermehrt digital gestaltet und „der Kulturwandel durch die Digitalisierung mitgedacht werden“.
Sehr große Probleme haben Kitas und Schulen mit dem anhaltenden Zustrom an Zuwandererkindern. Ihre Zahl hat sich sprunghaft erhöht, wie eine Statistik zeigt (Seite 5 der kompakten Zusammenfassung des Berichts). Demnach kamen 2012 rund 28.000 Flüchtlingskinder nach Deutschland. Zehn Jahre später waren es bereits 146.000 Mädchen und Jungen, die alle integriert werden müssen.
Diese Entwicklung wirkt sich negativ auf die Leistungen der Kinder und Jugendlichen aus, wie der Bericht offenbart (Seite 23). So sei der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die die Mindeststandards in Deutsch, Lesen und Mathematik nicht erreichen, insgesamt und im internationalen Vergleich groß.
Eine fatale Entwicklung, da dies Kompetenzbereiche sind, die die Voraussetzung für „anschlussfähiges Lernen“ in anderen Fächern und höheren Klassenstufen darstellen. Dies habe „entscheidende Folgewirkungen für die Bewältigung zukünftiger individueller Bildungs- und Entwicklungsaufgaben“.
Neben den geringen Kompetenzständen offenbare sich eine „zweite Dimension von Bildungsungleichheit“: So seien der Bildungserwerb wie auch die Berufswahl weiterhin stark an die Gegebenheiten in der Familie sowie an die „damit zusammenhängenden Bildungs- und Erwerbsbiografien […] gebunden“.
Quote der Schulabgänger ohne Abschluss wieder gestiegen
Die Wissenschaftler haben auch festgestellt, dass die Leseleistung bei Viertklässlern sinkt. Hingegen seien sie bei den Neuntklässlern „stabil“ geblieben. Zugenommen hat – nach einem kurzen Rückgang während der Corona-Pandemie – die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss. Die Quote stieg zuletzt von 5,7 Prozent auf 6,9 Prozent (Seite 10). Allerdings sind das immer noch weniger als 2006, als acht Prozent der Schüler ohne Abschluss waren (Statistik Seite 11).
Sozial bedingte Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung und dem Bildungserfolg bestehen nach Ansicht der Wissenschaftler weiterhin in „erheblichem Maße“. So erhielten lediglich 32 Prozent der Kinder aus benachteiligten Familien eine Empfehlung zum Besuch eines Gymnasiums. Bei „privilegierten Familien“ seien es hingegen 78 Prozent.
Diese Kluft verringert sich deutlich, wenn man die Schulleistungen und Schulnoten berücksichtigt. Doch zeige sich immer noch klar, wie letztlich auf eine Gymnasialempfehlung reagiert werde. So besuchen lediglich sieben Prozent der Kinder aus bessergestellten Familien trotz Empfehlung kein Gymnasium, bei der anderen Gruppe sind es 17 Prozent.
Es sei unverändert ein Problem, dass bei der Wahl von Bildungsangeboten Unterschiede nach sozialer Herkunft bestehen, fasst Maaz zusammen. Zudem müsse man sich bewusst machen, „dass soziale Bildungsungleichheiten nicht ausschließlich dort entstehen, wo sie in Bildungsstudien sichtbar werden, sondern auch und vor allem schon in der frühen Kindheit.“
Viele Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt
Einen Schwerpunkt haben die Wissenschaftler in diesem Jahr auf die berufliche Bildung gelegt. Erstmals seit 1995 gab es mehr Ausbildungsplätze als die Nachfrage danach, heißt es in der mehr als 430 Seiten Langfassung des Berichts (auf Seite 44). Angebot und Nachfrage gehen dabei offenbar weit auseinander. So blieben 73.444 Ausbildungsplätze unbesetzt, während 63.697 Anwärter auf eine Lehrstelle keinen geeigneten Job fanden.
Besonders groß ist das Problem, Interessierte für Arbeitsbereiche im Verkauf oder der Ernährung zu finden. Auch mangelt es offensichtlich an dem Wunsch, im Reinigungsbereich sein Geld zu verdienen. In diesen Berufszweigen werden sich die Schwierigkeiten nach Ansicht der Autoren langfristig verschärfen, wenn es nicht gelingt, die Ausbildungsstellen zu besetzen oder andere Wege der „Fachkräfterekrutierung“ zu finden.
Auf der anderen Seite ist der Informatikbereich beliebt, sodass Bewerberinnen und Bewerber Schwierigkeiten haben, unterzukommen. Unter Strich gehen gut zwei Dritte der Jugendlichen mit maximal mittlerem Schulabschluss Kompromisse ein. So lernen sie einen anderen Beruf als gewünscht und machen Abstriche bei Verdienst und Arbeitszeiten. Doch während acht Prozent sogar „erhebliche schlechtere Bedingungen“ in Kauf nehmen, verbessern sich diesbezüglich 20 Prozent.
Soziale Ungleichheiten sehen die Verfasser des Berichts (Seite 14) auch beim Studium. So besuchen 78 von 100 Kindern aus Akademikerfamilien selbst eine Hochschule. Aus Familien, in denen Eltern kein Studium absolviert haben, sind es lediglich 25 von 100.
Startchancen-Programm der Regierung für 4.000 Schulen
Vor allem die ungleichen Chancen ob der unterschiedlichen sozialen Herkunft will die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger bekämpfen. „Der Bildungserfolg hängt immer noch stark von der sozialen Herkunft – wir wollen dies nicht länger hinnehmen“, sagte sie laut Agenturen bei der Vorstellung des Berichts.
Die Bundesregierung setze sich dafür ein, die Erfolgschancen junger Menschen zu verbessern. Als Beispiel dafür nannte die Ministerin das Startchancen-Programm, mit dem Schulen in Brennpunkten unterstützt werden. 20 Milliarden Euro stehen dafür ab dem 1. August 2024 zur Verfügung, heißt es auf der Internetseite des Ministeriums. Etwa 4.000 Schulen in „herausfordernder Lage“ und damit rund zehn Prozent aller Schüler in Deutschland sollen mithilfe des Programms unterstützt werden.
„Wir haben viele Herausforderungen, das bestätigt der Bericht“, sagte auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD). Die dort beschriebenen Entwicklungsbedarfe müssten nun in konkrete Programme münden.
Angesichts der Ergebnisse wurden bereits Forderungen nach höheren Bildungsausgaben laut. „Deutlich mehr Geld in das Bildungssystem, das seit vielen Jahren erheblich unterfinanziert ist“, forderte beispielsweise die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern. Mit diesen Mitteln müssten insbesondere arme Kinder und deren Familien unterstützt werden.
Für das Aussetzen und eine Reform der Schuldenbremse sprach sich die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Elke Hannack, aus. Denn „junge Menschen brauchen erstklassig ausgestattete Schulen dringender als ausgeglichene öffentliche Haushalte“.
Ein Sondervermögen in gleicher Höhe wie jenes 2022 für die Bundeswehr beschlossene, forderte die bildungspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Nicole Gohlke. „Fällig wäre jetzt endlich ein großer Wurf: Ein 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bildung“, sagte sie gegenüber Agenturen.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion