„Bild“ zum Impfstoff-Desaster: Selbstkritischer Brief an die EU „in möglichst unterwürfigem Ton“

Die unzureichende Versorgung Deutschlands mit Impfstoff überschattet den Start der Corona-Impfung im Land. Während die „Bild“-Zeitung Kritik an der Verhandlungspolitik der EU übt, verteidigen Politiker und Journalisten von ARD und ZDF die Absage an „Impfnationalismus“.
Von 7. Januar 2021

Mittlerweile schreiben Medien von einem „Impfstoff-Desaster“ in Deutschland. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gestand am Wochenende ein, es sei an Corona-Impfstoff „zu wenig bestellt“ worden, „auch von den falschen Herstellern“.

Während Politiker wie Jens Spahn und Norbert Röttgen oder Journalisten wie ZDF-Brüssel-Korrespondent Stefan Leifert die Engpässe in der Versorgung Deutschlands mit dem Corona-Impfstoff als unvermeidbaren Preis für eine moralisch gebotene Absage an jedweden „Impf-Nationalismus“ verteidigen, kommt die „Bild“-Zeitung zu weniger schmeichelhaften Schlussfolgerungen.

Merkel wollte große Geste zugunsten der EU

Wie das Blatt berichtet, hätten ursprünglich die Gesundheitsminister Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Niederlande gemeinsam versucht, bei den Pharmaunternehmen, die an der Entwicklung des Corona-Impfstoffs arbeiteten, eine Zusage für die Lieferung einer ausreichenden Menge an die EU-Länder zu erreichen.

Die „Bild“ will über Informationen verfügen, wonach die Minister der vier Länder bereits im Juni Bedenken gehabt hätten, die EU könnte nicht in der Lage sein, selbst zeitgerecht ausreichend Impfstoff zu beschaffen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen bestand darauf, die Beschaffung des Impfstoffs in die Hände der EU zu legen. Sie und die Regierungschefs der anderen beteiligten Länder wiesen die vier Minister an, ihre eigenen Bemühungen zu beenden und die Angelegenheit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu übertragen.

Brief sollte „in möglichst unterwürfigem Ton verfasst“ werden

Zudem sollen die Minister dazu gedrängt worden sein, selbst in einem von „Selbstkritik“ geprägten Schreiben an die Kommission um die Übernahme der Verhandlungen zu bitten. „Bild“ dokumentierte den Brief. Nach Informationen der Zeitung „war es sowohl Kanzlerin Angela Merkel (66, CDU) als auch von der Leyen wichtig, dass der Brief von Spahn und seinen Kollegen in möglichst unterwürfigem Ton verfasst wird.“

Entsprechend bedauerten die Minister in der Nachricht, dass „die zeitgleichen Verhandlungen unserer Allianz Sorgen verursacht“ hätten. Man halte es im Interesse des gemeinsamen Ansatzes gegenüber den Konzernen und der Geschwindigkeit für „sinnvoll, wenn die Kommission die Führung in diesem Prozess übernimmt“.

Natürlich biete man „weiter unsere Unterstützung und Expertise an“. Außerdem würde man es „sehr begrüßen“, wenn die Kommission die Verhandlungen mit AstraZeneca übernehmen würde. Man habe es schließlich noch nicht geschafft, mit diesem alternativen Anbieter in Gespräche einzutreten.

Söder: „Operative Verantwortung bei der Kommission“

Die Übertragung der Verantwortung an die EU hat nun zur Folge, dass der vorrätige Impfstoff nicht annähernd ausreicht, um die Nachfrage unter den derzeit Impfberechtigten zu decken. Zudem könne nicht einmal auf alle vorhandenen Dosen zurückgegriffen werden. Söder erklärte am Samstag im „Bild-Talk“:

Die Hälfte der Dosen darf gar nicht geimpft werden, sondern muss zurückgehalten werden für die Auffrischungsimpfung, weil man nicht genau weiß, ob in zwei Wochen genügend Impfstoff geliefert wird.“

Die „operative Verantwortung“ für die Situation sieht Söder bei der Kommission. Es wurde, so erklärte er weiter, „eindeutig zu wenig bestellt“ und es sei „möglicherweise auch auf die falschen Hersteller gesetzt worden“. Dabei wäre das flächendeckende Impfen „deutlich günstiger“ gekommen als die Summe an Überbrückungshilfe, die nun Lockdown-bedingt weiter an die Unternehmen fließe.

Der „Merkur“ zitiert Söder mit der Ankündigung, den Lockdown bis Ende Januar zu verlängern, und dem Eingeständnis: „Alles, was wir derzeit tun, ist nur auf Sicht.“

Impfstoff wird „nur zu langsam produziert“

Als deutlich weniger dramatisch beurteilen hingegen Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die Lage. Die „Bild“-Zeitung dokumentierte Äußerungen von Brüssel-Korrespondent Stefan Leifert, der auf Twitter Erklärungen der EU zu den Lieferengpässen geradezu 1:1 als seine eigenen übernommen habe.

So erklärte er, die EU habe nicht ahnen können, welcher der Hersteller als Erster in der Lage sein würde, seinen Impfstoff anzubieten. Zudem schob er den Schwarzen Peter bezüglich des „Flaschenhalses“, der für die Verzögerung sorge, den Unternehmen zu, die „nicht schnell genug produzieren“.

ARD-Moderatorin Anne Will und eine Kollegin teilten Leiferts Beiträge mit Zustimmung. Seine Absage an den „Impfnationalismus“ wurde mit den Worten unterstrichen, man möge „bitte froh sein, dass sich Deutschland für den europäischen Weg entschieden hat“.

Dass NRW-Ministerpräsident Armin Laschet Kritik am Lieferengpass zu Beginn der Impfungen in Deutschland auch noch als „nachträgliche Besserwisserei und parteipolitisches Kleinklein“ abtat, ging ARD-Redakteur Georg Restle am Ende doch zu weit. Er schrieb:

„Wer berechtigte Kritik an der Impfstoffstrategie der Bundesregierung und der EU als ‚nachträgliche Besserwisserei‘ diffamiert, täuscht über Ursachen und Dimension des Problems: Offenbar waren Preis- und Standortfragen wichtiger als schnelle flächendeckende Impfungen.“

 



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