Berliner Justiz-Sieb: Vom deutschen Knast in die Türkei – und frei

Man stelle sich vor, ein zu mehreren Jahren verurteilter Straftäter kommt viele Jahre früher frei, weil der Staat keinen Therapieplatz für seinen Drogenentzug hat. Das ist keine Räuberpistole, sondern trug sich in den letzten Tagen gleich zweimal in Berlin zu. Die Reststrafe bestehe weiter, versichert man.
Eine Boeing 777 startet bei Sonnenuntergang vom Flughafen Frankfurt/Main.
Eine Boeing 777 startet bei Sonnenuntergang vom Flughafen Frankfurt/Main.Foto: Daniel Reinhardt/dpa
Von 16. Februar 2023

Während sich die Justiz mit Klimaklebern, immer wieder denselben Drogendealern und Kleinkriminellen oder einer Prozessflut gegen Abschiebungen oder für eingeklagte Asylverfahren befassen muss, müssen immer wieder gefasste Verdächtige auf freien Fuß gesetzt werden – weil in manchen Fällen die Untersuchungshaft zu lange dauert. Unabhängig von der Schwere der Straftat kommt es nicht rechtzeitig zum Prozess.

In anderen Fällen lassen die Haftanstalten Kriminelle aus der Abteilung für Drogen-kranke Straftäter, dem Maßregelvollzug, frei, weil sie keinen Platz haben. 16 Personen warten derzeit auf einen solchen Knast-Therapie-Platz in Berlin. Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) sehe angesichts der „Missstände“ dringend Handlungsbedarf. Sie stehe im „produktiven Austausch“ mit Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne). Es brauche eine „gemeinsame Kraftanstrengung“, um das über viele Jahre entstandene Problem zu lösen, sagte Kreck nach Angaben der „Berliner Morgenpost“.

Am 10. Februar kam in Berlin ein verurteilter Drogendealer frei, der eigentlich mehrere Jahre hinter Gitter hätte sitzen müssen – aus Platzmangel. Die Freilassung des Mannes geschah nur wenige Tage, nachdem bereits ein Clan-Mitglied aus denselben Gründen auf freien Fuß gesetzt wurde. Dabei hatte dieser noch mehrere Jahre Haft zu verbüßen.

Freigelassen, trotz sechs Jahre Resthaft

Am 3. Februar, gegen 16 Uhr, spazierte der Straftäter aus der JVA Moabit, berichtet „Spiegel TV“. Das Magazin verweist darauf, dass der Mann polizeibekannt sei, wegen schweren Raubes, Hehlerei und Körperverletzung.

Insgesamt sei Muhamed R. 2021 zu acht Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Sieben Jahre kamen dabei von einem Geldtransporter-Überfall mit 648.000 Euro Beute. Das Strafmaß habe auf einem Justiz-Deal für ein Geständnis basiert, wobei der Mann weder Mittäter nennen, noch die Beute zurückgeben musste, heißt es.

Der „Focus“ berichtete unter dem Titel „Kein Platz in Berliner Knast – Remmo-Mitglied trotz hoher Haftstrafe wieder frei – und jetzt über alle Berge“, dass das Landgericht Berlin im Urteil verfügt habe, dass der Mann „aufgrund einer psychischen Störung sowie Drogenabhängigkeit“ für bis zu zwei Jahre in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden solle. Als die Zeit dafür im September 2022 heran war, beantragte der Anwalt von Herrn R. die „sofortige Verlegung“ in die Therapieabteilung, den Maßregelvollzug.

Wie die „Bild“ zu dem Fall berichtete, habe die Justiz nur wenige Wochen Zeit zur Überstellung ins Haftkrankenhaus gehabt und vergeblich versucht, das Verfahren hinauszuzögern. Doch es sei einfach kein Therapieplatz verfügbar gewesen.

Strafvollzug „rechtswidrig“

Gerichtssprecherin Lisa Jani erklärte den „Spiegel“-Reportern: „Der Verurteilte ist aus der JVA Moabit entlassen worden, weil er eigentlich im Krankenhaus des Maßregelvollzugs unterzubringen gewesen wäre, er dort aber keinen Platz bekommen hat. Und dann war die weitere Aufrechterhaltung des Strafvollzuges in der JVA Moabit rechtswidrig.“

Die für die Strafvollstreckung zuständige Staatsanwaltschaft erklärte aus ihrer Sicht, dass nach der Gefängniszeit der Maßregelvollzug nicht angetreten werden konnte, weil bis Mitte Januar 2023 keine absehbare Aufnahme ersichtlich gewesen sei. Man habe den Mann aber nicht länger in Haft halten können. Laut Staatsanwaltschaft verfalle die restliche Strafe des Verurteilten durch die Freilassung jedoch nicht. Er werde zu gegebener Zeit wieder vorgeladen, hieß es.

Am 10. Februar begab sich Muhamed R. zum BER, von wo aus er in die Türkei abflog. Nach „Spiegel“-Angaben habe sein Anwalt mitgeteilt, dass er sich der Drogentherapie stellen werde. Im Übrigen könne er reisen, wohin er wolle. Wie „Spiegel“ weiter berichtet, sei er am 14. Februar in einem Instagram-Video aus der Türkei zu sehen, beim Hilfseinsatz für die Erdbebenopfer.

Zu diesem Zeitpunkt steht offen, ob Mohamed R. tatsächlich aus dem Grund, vor Ort helfen zu wollen, in die Türkei reiste und ob er zurückkommt, wenn der Termin für die Drogentherapie ansteht – so es denn in Berlin einen freien Platz gibt.

Brokstedt-Killer auch früher frei

Ibrahim A., jener 33-jährige per Definition staatenlose und in Deutschland mehrfach straffällige, aber Abschiebung-befreite Palästinenser, tötete am 25. Januar im Zug bei Brokstedt zwei junge Menschen und verletzte fünf weitere schwer. Wenige Tage zuvor war der Mann aus der Untersuchungshaft in Hamburg entlassen worden. Dort saß er wegen einer Verurteilung ein, gegen die er in Revision gegangen war.

Der „Stern“ schreibt dazu: Ibrahim A. habe am 18. Januar 2022 in Hamburg „unter Alkohol- und Drogeneinfluss vor einer Diakonie-Aufenthaltsstelle für Obdachlose einen Mann geschlagen und mit einem Klappmesser (Klingenlänge 10,5 Zentimeter) schwer verletzt“, bevor er in einem Aldi-Markt Lebensmittel gestohlen hätte. Vier Tage später, am 22. Januar 2022 wurde der Wohnungslose per Haftbefehl in die Justizvollzugsanstalt in Hamburg-Billwerder eingewiesen.

Bei seinem Prozess am 18. August 2022 bekam A. eine Strafe von einem Jahr und einer Woche Haft ohne Bewährung. Der Palästinenser ging in Revision vor das Landgericht, die Verurteilung des Amtsgerichts war damit nicht rechtskräftig. Als Ibrahim A. am 19. Januar 2023 nach 363 Tagen U-Haft entlassen wurde, hätte er mit regulärem Urteil noch neun Tage sitzen müssen. Das gab es aber nicht mehr.

Das Landgericht Hamburg hob den Haftbefehl auf und Ibrahim A. konnte gehen. Da er keine reguläre Haftstrafe hatte und nur in Untersuchungshaft war, wurden auch keine Auflagen verhängt.

Freilassen. Dauert zu lange.

2022 kamen mindestens 73 Menschen in Deutschland aus Untersuchungshaft frei, weil ihre Strafverfahren zu lange in der Warteschleife waren, berichtete der Deutsche Richterbund kürzlich. 2021 wurden 66 Fälle von der Justizverwaltung gemeldet, 2020 immerhin 40 Fälle. Geht man die letzten fünf Jahre zurück, wurden über 300 Tatverdächtige aus der U-Haft entlassen, ihre Haftbefehle aufgehoben, weil die entsprechenden Strafverfahren zu lange gedauert hätten.

Laut Richterbund entstehe die Situation aus einer Mischung von immer komplexeren Strafverfahren und dem akuten Personalmangel bei Staatsanwaltschaft und Gerichten. Den Angaben zufolge fehlten der Strafjustiz mindestens 1.000 Juristen. Oder wieder andersherum gesagt: Die, die da sind, sind zu beschäftigt, um noch mehr bewältigen zu können.



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