Belgischer „Bröckelreaktor“: Aachener erhalten jetzt Jodtabletten – Bund verdient am Betreiber
Die Einwohner Aachens und der Umgebung können ab dem 1. September kostenlos Jodtabletten erhalten. Damit soll die Bevölkerung für einen möglichen Atomunfall im 70 Kilometer entfernten belgischen Atomkraftwerk Tihange vorsorgen.
Auf Drängen der Städteregion Aachen beim Land Nordrhein-Westfalen wurde die Verteilung der Tabletten schon vor dem Ernstfall genehmigt. Grund dafür ist die Nähe zum umstrittenen Atomkraftwerk und die Bedenken der Bevölkerung in dieser Region.
Info-Broschüre an Bevölkerung verteilt
In anderen Regionen Nordrhein-Westfalens werden Tabletten in den Landkreisen gelagert und erst im Notfall ausgegeben. Jodtabletten sättigen die Schilddrüsen und verhindern, dass der Körper radioaktives Jod aufnimmt. Allerdings schützt Jod nicht vor radioaktiven Stoffen wie Cäsium oder Strontium, die ebenfalls bei einem Atomunfall freigesetzt werden können. Seid einigen Wochen wird darüber hinaus eine 24 Din-A-4-Seiten starke Broschüre verteilt. Diese informiert darüber, wie Einwohner im Falle eines möglichen GAU gewarnt werden und wie sie sich dann verhalten sollten.
Trotz Rissen im Reaktor: Tihange-2 weiter in Betrieb
Das belgische Atomkraftwerk Tihange geriet bereits mehrmals in die Schlagzeilen. Im Februar 2015 teilten der Betreiber Electrabel und die belgische Atomaufsichtsbehörde FANK mit, man habe tausende neue Risse im Reaktor Tihange-2 gefunden. Daraufhin wurde das Atomkraftwerk zeitweise abgeschaltet. Die Risse sind nicht behoben, doch das Atomkraftwerk ist wieder am Netz – trotz zahlreicher Kritik. Bedenken äußerten unter anderem verschiedene Behörden, Landesregierungen und die Bundesregierung, außerdem Umweltschutzorganisationen aus Belgien und dessen Nachbarländern.
Brisant: Bundesregierung genehmigt Brennelemente-Lieferung nach Tihange
Zudem wurde am 28. März 2017 folgendes bekannt: Seit Juli 2016 wird der Reaktor Tihange-2 mit Brennelementen aus Deutschland (Lingen) beliefert – und das, obwohl sich die Bundesregierung gegen eine Wiederaufnahme des Betriebs des Kraftwerks ausgesprochen hatte.
Das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) erteilte 50 Transportgenehmigungen, darunter die Genehmigung, 68 Brennelemente für Tihange-2 zu liefern. Die Behörde untersteht dem Bundesumweltministerium.
NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) warf der Bundesregierung deshalb vor, sie werde mit ihrer Kritik unglaubwürdig. „Wortreich wird die Forderung nach Abschaltung der belgischen Bröckelreaktoren unterstützt, aber gleichzeitig genehmigt sie [die Bundesregierung] Atomlieferungen, ausgerechnet zu dem umstrittenen belgischen Reaktor Tihange 2″, kritisierte Remmel.
Das Umweltministerium in Berlin kommentierte: „Es kommt vor, dass die Rechtslage nicht alles zulässt, was man politisch für wünschenswert und richtig hält“, so eine Sprecherin. Die Ausfuhr dürfe nur untersagt werden, „wenn sie gegen unsere internationalen Verpflichtungen verstieße oder die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden würde“.
Durch die Brennelemente-Lieferungen, so betonen Atomkraftgegner, sei die Sicherheit Deutschlands gefährdet. Ein Lieferverbot der Bundesregierung wäre auch aus ihrer Sicht durch das Atomgesetz gedeckt. Die Bundesregierung leiste durch ihre Billigung Beihilfe zum AKW-Betrieb.
Bund verdient über Fonds am AKW-Betreiber
Hinzu kommt, dass sowohl der Bund, als auch das Land NRW an dem umstrittenen AKW-Betreiber verdienten – über Fondsbeteiligungen.
Nordrhein-Westfalen war bis vor kurzem über einen Pensionsfonds an der Firma Engie-Electrabel beteiligt. Nach dem dies bekannt wurde, verkaufte man alle Anteile.
Doch auch der Bund hält über zwei eigene Fonds Aktien an dem Betreiber des Atomkraftwerks Engie-Electrabel. Die Fonds stellen die Zahlung der Versorgungsleistungen für pensionierte Beamte sicher.
„Es ist unglaubwürdig, einerseits die Stilllegung der Schrottreaktoren Tihange und Doel in Belgien zu fordern, andererseits eine Beteiligung am Betreiber Engie zu halten“, kritisierte der Dürener Bundestagsabgeordnete Oliver Krischer (Grüne). Er hatte die Anfrage gestellt, berichtete die Aachener Zeitung.
Krischer war der Bundesregierung Bigotterie vor, weil Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) schon länger ein Abschalten der wegen Tausender Mikro-Risse umstrittenen Reaktoren fordere, aber Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sich „über die Gewinne aus diesem Russisch-Roulette freut“, so der Abgeordnete.
Die Grünen forderten deshalb die Bundesregierung und die Länder auf, ihre Beteiligungen an Engie unverzüglich zu verkaufen, berichte die Aachener Zeitung.
Städte und Landesregierungen reichen Klage ein
Die Städteregion Aachen, zu der auch Maastricht in den Niederlanden und Wiltz in Luxemburg gehören, klagt gegen einen Weiterbetrieb des Kraftwerks. Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz schlossen sich der Klage an. Am 6. Juni 2016 forderte das niederländische Unterhaus Belgien dazu auf, seine Atomkraftwerke zu schließen.
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