Bayerisches Verfassungsschutzgesetz teilweise verfassungswidrig
Das umstrittene bayerische Verfassungsschutzgesetz ist teilweise verfassungswidrig. Mehrere Vorschriften verstießen gegen Grundrechte, entschied das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in Karlsruhe. Die Gesetzesnovelle von 2016 gibt dem bayerischen Verfassungsschutz weitreichende Befugnisse, wie etwa die verdeckte Onlinedurchsuchung von Computern mit sogenannten Staatstrojanern oder unter bestimmten Voraussetzungen die akustische und optische Überwachung von Wohnungen. (Az. 1 BvR 1619/17)
Wohnraumüberwachung
So sei zum Beispiel die Wohnraumüberwachung (Art. 9 Abs. 1 BayVSG) verfassungswidrig, weil die Befugnis zwar im Grunde hinreichende Eingriffsvoraussetzungen bestimme („dringende Gefahr“), jedoch nicht auf das Ziel der „Abwehr“ einer Gefahr ausgerichtet sei und weil die erforderliche Regelung zur Subsidiarität gegenüber Gefahrenabwehrmaßnahmen der Gefahrenabwehrbehörden fehle.
Außerdem seien die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Kernbereichsschutz bei Wohnraumüberwachungen weder für die Erhebungsebene noch für die Auswertungsebene vollständig erfüllt.
Online-Durchsuchungen
Der Artikel zu Online-Durchsuchungen sei verfassungswidrig, weil die Befugnis durch den Verweis auf Artikel 9 Absatz 1 BayVSG dessen Mängel weitgehend teile, so die Karlsruher Richter. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Kernbereichsschutz seien zwar für die Erhebungsebene erfüllt, nicht aber für die Auswertungsebene. Die Ortung von Mobilfunkendgeräten (Art. 12 Abs. 1 BayVSG) sei zudem verfassungswidrig, weil die Befugnis so weit gefasst sei, dass sie auch eine langandauernde Überwachung der Bewegungen der Betroffenen erlaube („Bewegungsprofil“), ohne den dafür geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Die Regelung sehe insoweit keine hinreichend bestimmten Eingriffsvoraussetzungen vor, und es fehle die erforderliche unabhängige Vorabkontrolle.
Auskunft über Verkehrsdaten
Der Bereich „Auskunft über Verkehrsdaten aus Vorratsdatenspeicherung“ (Art. 15 Abs. 3 BayVSG) verstoße unterdessen gegen das Gebot der Normenklarheit. Art. 18 Abs. 1 BayVSG („Verdeckte Mitarbeiter“) und Art. 19 Abs. 1 BayVSG („Vertrauensleute“) seien verfassungswidrig, weil keine hinreichenden Eingriffsschwellen geregelt seien und eine Bestimmung fehle, die den Kreis zulässiger Überwachungsadressaten begrenzend regele, sofern der Einsatz von verdeckten Mitarbeitern oder Vertrauensleuten gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet sei, so das Verfassungsgericht weiter. Außerdem fehle es an der erforderlichen unabhängigen Vorabkontrolle.
Informationsübermittlung
Art. 19a Abs. 1 BayVSG („Observation außerhalb der Wohnung“) sei verfassungswidrig, weil die Befugnis für den Fall besonders eingriffsintensiver Observationen nicht hinreichend bestimmt auf Bestrebungen oder Tätigkeiten von besonders gesteigerter Überwachungsbedürftigkeit beschränkt sei und es auch hier an einer unabhängigen Vorabkontrolle fehle.
Soweit die Übermittlungsbestimmungen des Art. 25 BayVSG („Informationsübermittlung durch das Landesamt“) zulässig angegriffen sind, genügten sie nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Zum Teil ziele die Übermittlung nicht auf den Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter, zum Teil seien keine hinreichenden Übermittlungsschwellen vorgesehen.
Die Weiterverarbeitungs- und Übermittlungsbefugnis des Art. 8b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayVSG („Daten aus Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchung“) sei wegen einer unzulässigen dynamischen Verweisung auf Bundesrecht verfassungswidrig. Das gelte auch für Art. 8b Abs. 3 BayVSG („Daten aus Auskunftsersuchen“); außerdem verstießen dessen vielgliedrige Verweisungsketten gegen das Gebot der Normenklarheit, so die Karlsruher Richter. Art. 15 Abs. 3 BayVSG sei nichtig.
Im Übrigen seien die beanstandeten Vorschriften lediglich mit der Verfassung unvereinbar und gelten vorübergehend – mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch nach einschränkenden Maßgaben – bis zum Ablauf des 31. Juli 2023 fort, so das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 26. April 2022 – 1 BvR 1619/17).
Nach Karlsruhe zogen drei Mitglieder von Organisationen, die im Verfassungsschutzbericht des Freistaats erwähnt wurden. Sie halten es darum für möglich, dass sie selbst überwacht werden könnten. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützte ihre Verfassungsbeschwerden. Das Gesetz war schon bei seiner Einführung umstritten und allein mit den Stimmen der CSU im Münchner Landtag verabschiedet worden.
Bayern: Grundsatzurteil auch für Bund
Die bayerische Staatsregierung hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als ein Grundsatzurteil bewertet, das auch den Bund und die anderen Bundesländer betrifft. „Wir beachten das Urteil“, sagte Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) am Dienstag im Anschluss an eine Kabinettssitzung in München.
Herrmann war zur Urteilsverkündung nach Karlsruhe gereist. Bayern werde die geforderten Änderungen schnell umsetzen, „aber das ist machbar“, sagte er. Das Urteil zeige, dass das Verfassungsgericht die Tätigkeit des Verfassungsschutzes richtig, wichtig und notwendig finde. Er erwarte aber auch, dass die von Karlsruhe beschriebene Rechtslage sicher auch im Bund und in anderen Bundesländern umgesetzt werden müsse.
Justizminister begrüßt Karlsruher Verfassungsschutz-Urteil
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) teilte mit, die Entscheidung sei ein „klares Signal für die Stärkung der Bürgerrechte, gerade auch im digitalen Raum“.
„Eine zeitgemäße Sicherheitspolitik braucht präzise und gleichzeitig grundrechtsschonende Befugnisse.“ Die Entscheidung aus Karlsruhe gebe der Ampelkoalition „Rückenwind“, fügte der Minister hinzu. „Wir brauchen eine evidenzbasierte, grundrechtsschonende und bürgerrechtsfreundliche Sicherheitspolitik, in der Eingriffe des Staates in bürgerliche Freiheitsrechte gut begründet und in ihrer Gesamtwirkung fundiert analysiert werden.“ (dts/afp/red)
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