Bahn stellt Kunden schmerzhafte Radikalkur in Aussicht
Mit dem 9-Euro-Ticket kann man was erleben: Zugausfälle, Verspätungen, Reisestress. Mitten im großen deutschen Bahn-Test kommt den Verantwortlichen die bittere Erkenntnis: Es kann so nicht weitergehen mit dem bundesweiten Schienennetz. Viele Gleise, Weichen, Brücken und Stellwerke sind überaltert, das Netz nicht bereit für Millionen zusätzliche Fahrgäste. An hunderten Stellen bauen und zugleich mehr fahren – so wie jetzt funktioniert das nicht.
Eine „Generalsanierung“ der wichtigsten Strecken soll die Bahn nun fit machen. Viele Fragen dazu sind noch offen, doch die Richtung hat der Bund nun vorgegeben: „Ich erwarte, dass wir in Zukunft wieder die Uhr nach der Bahn stellen können“, sagt Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP).
Das war zuletzt immer schwieriger geworden. Mehr als jeder dritte Fernzug kam im Mai zu spät – so schlecht war die Quote seit zwölf Jahren nicht mehr. Auch Regionalzüge verspäten sich häufiger. Weil mehr als 200 Güterzüge still stehen, schimpft auch die Industrie über die Bahn. „Wir verfehlen nicht nur unsere Klimaziele, sondern haben auch Wachstumseinbußen“, warnte Wissing.
Jährlich zwei bis drei Abschnitte
Der Plan: Von 2024 an sollen die wichtigsten Korridore generalsaniert werden, Abschnitte wie Dortmund-Duisburg-Düsseldorf-Köln oder die Knoten München und Hamburg. Jedes Jahr zwei bis drei dieser Abschnitte, beginnend vielleicht mit der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim.
Schwellen, Schotter, Gleise, Weichen, Stellwerke, Signale, Bahnsteige – was sonst nacheinander gemacht wurde, sollen die Baufirmen dort nun gleichzeitig richten und den Abschnitt auch auf mehr Kapazität trimmen. „Die Strecke wird einmal gesperrt und ist dann für viele Jahre baufrei“, so die Idee.
Für die Kunden machte Bahnchef Richard Lutz jedoch deutlich: „Einen schmerzfreien Weg der Gesundung wird es nicht geben.“ Denn die Vollsperrungen werden wochen- oder monatelange Umleitungen und längere Fahrzeiten bringen.
Der Weg und das Ziel
Das Ziel: ein Hochleistungsnetz. Hat die Bahn früher Überholgleise und Weichen abgebaut, sollen es davon wieder mehr geben. Auch mehr Signale, damit Züge an Baustellen bei vollem Tempo auf dem Nebengleis vorbeirauschen können. Statt immer nur am kostengünstigsten soll öfter schnell und damit kundenfreundlich gebaut werden.
Der Weg: Der Bund greift beim bundeseigenen Konzern stärker durch. Eine Steuerungsgruppe im Ministerium soll die Korridorsanierung koordinieren und überwachen. Die Beamten kontrollieren auch den Umbau des Konzerns: Die Infrastrukturtöchter der Bahn sollen zum 1. Januar 2024 zu einem gemeinwohlorientierten Unternehmen zusammengefasst werden.
„Wir werden die Eigentümerinteressen stärker durchsetzen“, kündigte Wissing an, „gegenüber dem Aufsichtsrat und auch gegenüber dem Vorstand“. Die Sanierung des maroden Netzes sei für ihn „Chefsache“. Bahnchef Lutz, der den Plan kürzlich schon skizziert hatte, sagte: „Ich fühle mich nicht an die Leine genommen.“
CDU-Politiker Pofalla vorzeitig aus Vorstand gegangen
Zuständig für die Infrastruktur war im Bahn-Vorstand zuletzt der frühere CDU-Politiker Ronald Pofalla. Er war Ende April vorzeitig gegangen. Wissing kündigte an, dass der Aufsichtsrat der Bahn an diesem Donnerstag einen Nachfolger benennen werde. Als Favorit gilt der Personenverkehrsvorstand Berthold Huber.
Wie es zu der Misere bei der Bahn kam? Politische Fehlentscheidungen, meint der FDP-Mann Wissing, der das lange unionsgeführte Ministerium im Herbst übernahm. Er zeigte sich zuversichtlich, dass die notwendigen Milliarden für die Generalsanierung fließen. Für langfristige Bauvorhaben sei langfristige Planungssicherheit notwendig, mahnte die Bahnlobby Allianz pro Schiene. Lutz sagte: „Das Thema Verfügbarkeit von Geld wird in den nächsten Jahren keine Rolle spielen.“
Die Aufgabe ist groß. Seit Jahren arbeitet die Bahn an ihrem Sanierungsstau, den sie zuletzt auf rund 60 Milliarden Euro bezifferte. „Wir haben auf den hochbelasteten Korridoren noch nie so viel gebaut und hatten noch nie so viel Verkehr“, erklärte Lutz. 51.000 Züge fahren täglich durch Deutschland. 2030 werden gut 59.000 erwartet. Die meisten müssen durch die zentralen Korridore.
Nichts Neues und vieles unklar
‚Alles keine neuen Erkenntnisse‘ heißt es beim Bundesverband Schienennahverkehr. Seine Mitglieder bestellen bei der Bahn und ihren Konkurrenten die Regionalzugfahrten. Auch an den Plänen sehen sie nicht viel Neues – überdies an vielen Stellen Unklarheiten. Ebenso sehen die Bahn-Konkurrenten im Güterverkehr das Vorhaben als zu vage.
Deutlich wurde die größte Bahn-Gewerkschaft EVG: „eine einzige Enttäuschung“. Der Vorsitzende und Vize-Chef des Bahn-Aufsichtsrats Klaus-Dieter Hommel bilanzierte: keine neuen Impulse, keinerlei Aussicht auf ausreichende Finanzierung. Aus Sicht der Wirtschaft muss das Netz nicht nur auf Vordermann gebracht, sondern ausgebaut werden. „Allein in den letzten 20 Jahren wurden rund 6.000 Trassenkilometer stillgelegt“, kritisierte der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen.
Das 9-Euro-Ticket für Busse und Bahnen im Nahverkehr soll nicht über August hinaus verlängert werden, machte Wissing deutlich. Die Verbraucherzentralen hatten ein Anschluss-Angebot für 29 Euro monatlich vorgeschlagen. Wissing sagte, die Ergebnisse des Experiments sollten ausgewertet werden, um für vereinbarte Gespräche mit den Ländern wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen – auch zu mehr Anreizen für eine Nahverkehrsnutzung im normalen Tarifsystem. (dpa/mf)
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