Armut in Deutschland: Europarat sieht viele Mängel bei Menschenrechten im Land
Der Europarat veröffentlichte am 19. März seinen aktuellen Länderbericht der Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatović für Deutschland. Die europäische Menschenrechtsorganisation fordert hierzulande besonders mehr Anstrengungen im Kampf gegen verschiedene Formen der Armut.
Zudem machte der Europarat auf eine „wachsende Ungleichheit“ in der Bundesrepublik aufmerksam. Mijatović zeigte sich sehr besorgt über die hohe Anzahl der Menschen, die in Armut leben und von sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Das stünde in keinem Verhältnis zum Reichtum des Industriestaates.
Mijatović und ihr Team besuchten Deutschland vom 27. November bis 1. Dezember 2023. In dieser Zeit führte die Kommissarin Gespräche mit den deutschen Behörden, einigen Menschen im Land, Menschenrechtsorganisationen, gesellschaftlichen Organisationen, Vertretern von Kindern und Jugendlichen und anderen. Die Ergebnisse sind im Bericht über Deutschland (country visit report) aufgeführt.
Armutsproblem bei Erwachsenen und Kindern
Mijatović begrüßte in dem Bericht die von der Bundesregierung bereits ergriffenen Maßnahmen, wie beispielsweise die Reform des Sozialsystems. Die Bundesregierung hatte hierfür die Sozialversicherungsleistungen erhöht und Arbeitslosen mehr Ausbildungsmöglichkeiten angeboten. Laut der Kommissarin seien jedoch weitere Anstrengungen nötig.
Nach Ansicht des Deutschen Instituts für Menschenrechte bemängelte die Menschenrechtskommissarin, dass soziale Rechte in Deutschland oft nicht als Grund- und Menschenrechte angesehen würden. Hier sei der Staat in der Pflicht, dies zu ändern. Das betreffe unter anderem das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das Recht auf Bildung ebenso wie das Recht auf Wohnen. Hier bestehe noch sehr viel Handlungsbedarf.
Armut und Einkommensungleichheit in Deutschland nahmen in den vergangenen Jahren erheblich zu. Im Jahr 2022 waren fast 21 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht – ein Rekordwert.
Laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts konnten ärmere Haushalte von der insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung und der sinkenden Arbeitslosenquote im vergangenen Jahrzehnt nicht profitiert. Vielmehr fielen sie weiter zurück. Zwischen 2010 und 2019 stieg der Anteil der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, um 40 Prozent an.
Infolge der wachsenden Armut und eines Anstiegs der Lebensmittelkosten um 15 Prozent seit 2022 hat sich die Zahl der Empfänger an den Tafeln in den vergangenen zwei Jahren fast verdoppelt – von 1,1 Millionen im Jahr 2020 auf zwei Millionen im Jahr 2022. 28 Prozent davon sind Kinder und Jugendliche, und fast ein Viertel sind ältere Menschen.
Kinderrechte stärken
Konkret fordert Mijatović Deutschland auf, die Höhe der Sozialleistungen an das aktuelle Preisniveau und die tatsächlichen Bedürfnisse anzupassen. Ebenso müssten die Behörden Antragsverfahren vereinfachen und Antragsberechtigte umfassender informieren. Besonders alarmiert zeigte sich die Kommissarin wegen der großen Anzahl an Kindern in Deutschland, die in Armut leben.
Dringenden Handlungsbedarf sieht die Menschenrechtskommissarin auch bei der Verwirklichung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Das Kindeswohl stünde bei Behörden und öffentlichen Einrichtungen oftmals nicht oder kaum im Fokus.
Nach Ansicht von Mijatović gebe es zu wenig Anlaufstellen für Kinder in deren direktem Umfeld. Es gebe nur in vier Bundesländern – Brandenburg, Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt – und in nur einem Prozent der Gemeinden Kinderbeauftragte. Komplett fehlen würden Anwälte oder Kontaktstellen, die auf die Rechtsberatung von Kindern spezialisiert sind. Die Leitlinien des Europarats zur kinderfreundlichen Justiz empfehlen den EU-Mitgliedstaaten jedoch solche Einrichtungen.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert die Bundesländer und die Kommunen auf, die Anzahl der Kinderbeauftragten zu erhöhen. Ziel müsse es sein, dass Kinder leichten Zugang zu Beschwerdeeinrichtungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene haben – unabhängig von ihren Eltern.
Wohnungsnot erfordert Maßnahmen
Eine direkte Folge der Armut in Deutschland ist die Obdachlosigkeit. Zuletzt ist die Zahl der Obdachlosen in Deutschland stark angestiegen. Im Verlauf des Jahres 2022 gab es zeitweise 607.000 wohnungslose Menschen, wie „ntv“ berichtet. Ein Jahr davor hatten nur rund 383.000 Menschen kein Obdach – ein Anstieg von 58,5 Prozent.
Laut der Menschenrechtskommissarin sind hauptsächlich Familien und junge Menschen stark von diesem Problem betroffen. Um die Obdachlosigkeit zu verhindern und zu beseitigen, seien dem Bericht des Europarats zufolge umfassende Maßnahmen nötig. Änderungen beim Mietrecht wäre eine davon.
Aus Berlin hieß es, die Bundesregierung teile „die Sorgen der Kommissarin hinsichtlich der steigenden Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland“. Von deutscher Seite wurde darauf verwiesen, dass erstmals beschlossen worden sei, einen Nationalen Aktionsplan zur Überwindung von Wohnungslosigkeit zu verabschieden. Mijatović begrüßte diesen Schritt. Deutschland müsse dringend mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen.
Der Bestand an Sozialwohnungen in Deutschland sei von rund drei Millionen Wohnungen im Jahr 1990 auf derzeit rund eine Million Sozialmietwohnungen „abgeschmolzen“. Der Bund wolle den Ländern für den sozialen Wohnungsbau im Zeitraum 2022 bis 2027 aber insgesamt 18,15 Milliarden Euro an Bundesmitteln zur Verfügung stellen.
Dabei würden die Länder diese Summe mitfinanzieren, „sodass erfahrungsgemäß insgesamt eine mehr als doppelt so hohe Summe für die Schaffung von sozialem und bezahlbarem Wohnraum zur Verfügung stehen wird“. Damit sei „die Trendwende hin zu einem sich perspektivisch wieder aufbauenden Sozialwohnungsbestand eingeleitet“ worden. Zudem seien dringende Maßnahmen nötig, um dem akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum mit allen verfügbaren Mitteln zu begegnen. Dazu gehörten auch Eingriffe in den Wohnungsmarkt.
Narrative und Inklusion
Mijatović kritisiert zudem die anhaltenden Narrative – also sinnstiftende Erzählungen – im politischen Diskurs sowie in den Medien. Diese würden oftmals Menschen in Armut eigenes Versagen und Trägheit als Ursache ihrer Situation vorwerfen. Die Kommissarin wies klar darauf hin, dass strukturelle und generationsübergreifende Benachteiligung und Ausgrenzung den effektiven Zugang zu sozialen Rechten verhindern.
Bezüglich der Inklusion von Menschen mit Behinderungen sieht die Menschenrechtskommissarin nur sehr begrenzte Fortschritte. Ein unabhängiges Leben in der Gemeinschaft sei für viele Menschen mit Behinderungen weit entfernt. Sie müssten nach wie vor in Sonderstrukturen lernen, arbeiten und leben – sei dies in Förderschulen, Werkstätten oder Wohneinrichtungen.
Was sagt die Bundesregierung zum Bericht?
Die Bundesregierung in Berlin merkte laut DW an, dass dieser Bericht rechtlich nicht bindend sei. Aufgrund der ernst zu nehmenden Stellung des Europarats sorgt dieser Bericht für Diskussionsbedarf zwischen der Bundesregierung und der Menschenrechtskommissarin. Generell begrüßte die Ampelkoalition den Bericht. Sie betrachtet diesen als einen wichtigen Beitrag zum Stand der Menschenrechte in Deutschland.
In einem Kommentar der Bundesregierung zum Bericht meinte diese, dass manche Ausführungen „nicht der politischen Realität entsprechen“. Deutschland habe beispielsweise die Rechte von Menschen mit Behinderungen stetig verbessert. Die Aussagen zum Ausmaß der Armut in Deutschland hält die Bundesregierung für nur eingeschränkt nachvollziehbar.
Auch die Darstellungen bezüglich der sozialen Rechte entsprächen laut der Bundesregierung oftmals nicht der politischen Realität. Die Ampel ist der Ansicht, dass die Menschenrechtskommissarin in ihren wenigen Besuchstagen „die tatsächliche, rechtliche und politische Situation“ nicht umfassend hat abbilden können. Die Bundesregierung hält es zudem nicht für notwendig, eine zentrale Anlaufstelle für Kinderrechte einzurichten. Stattdessen gebe es die Absicht, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern.
Dem Europarat, der sich als Hüter der Menschenrechte versteht, gehören 46 Länder an. Die Länderorganisation mit Sitz in Straßburg setzt sich für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein. Der nun veröffentlichte Bericht folgte auf einen Besuch von Mijatović in Deutschland Ende des vergangenen Jahres. Dabei traf sie Bundesminister und Vertreter auf kommunaler Ebene sowie aus der Zivilgesellschaft.
(Mit Material von AFP)
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