„Anarchokapitalist“ im Kanzleramt: Scholz trifft Milei

Zwei ganz unterschiedliche Politikertypen kamen in Berlin zusammen: Olaf Scholz und Javier Milei. An wichtigen Themen mangelt es nicht, sie drehten sich auch um Lithium und Freihandel. Bundeskanzler Scholz sprach auch die Folgen von Mileis Reformpolitik für die argentinische Bevölkerung an.
Titelbild
Javier Milei und Olaf Scholz am 23. Juni 2024.Foto: Ralf Hirschberger/AFP via Getty Images
Epoch Times23. Juni 2024

Begleitet von Protesten ist Argentiniens Präsident Javier Milei am Sonntag von Bundeskanzler Olaf Scholz im Kanzleramt empfangen worden. Es ist der erste Besuch in Berlin seit Mileis Amtsantritt vor einem halben Jahr. Vor dem Kanzleramt hatten sich mehrere Dutzend Demonstranten versammelt, auf Transparenten war „Weg mit Milei“ zu lesen.

Bei ihrem Treffen am Sonntag in Berlin sprach Bundeskanzler Olaf Scholz den Argentinier auch auf die Folgen seiner umstrittener Reformpolitik für die argentinische Bevölkerung an, wie das Kanzleramt mitteilte. Scholz habe „unterstrichen, dass aus seiner Sicht Sozialverträglichkeit und der Schutz des gesellschaftlichen Zusammenhalts wichtige Maßstäbe sein sollten“.

Bundeskanzleramt: Mercosur und Freihandelsabkommen

Scholz habe mit Milei über die „ganze Breite der bilateralen Beziehungen“ gesprochen, erklärte das Bundeskanzleramt weiter. Scholz wie Milei sprachen sich demnach für einen raschen Abschluss der Verhandlungen über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den südamerikanischen Mercosur-Staaten aus.

Das Abkommen zwischen den Mercosur-Mitgliedsländern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay und der EU ist seit 2019 ausgehandelt, aber noch nicht ratifiziert. Im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl hatte Milei das Abkommen kritisiert und mit dem Rückzug seines Landes gedroht.

Scholz äußerte dem Bundeskanzleramt zufolge auch seine Unterstützung für einen Beitritt Argentiniens zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der OECD, die sich unter anderem der Wohlstandsförderung und der Gerechtigkeit verschrieben hat, gehören derzeit 38 Staaten an. Argentinien ist eines von sieben Ländern, mit denen derzeit Beitrittsgespräche geführt werden.

Zunächst war geplant gewesen, Milei in Deutschland mit militärischen Ehren zu empfangen, zudem sollte nach dem Treffen mit Scholz eine Pressekonferenz stattfinden. Es blieb ein kurzer Fototermin zum Auftakt des Gesprächs – auf Wunsch Mileis, wie es von deutscher Seite heißt. Auch in seiner Heimat gibt er praktisch nie Pressekonferenzen.

Wirtschaftsthemen auf der Tagesordnung

Bei dem Treffen im Kanzleramt dürfte es vor allem um Wirtschaftsthemen gegangen sein. Argentinien verfügt über viele Rohstoffe wie beispielsweise Lithium, das in Deutschland gebraucht wird.

Milei ist als Wirtschaftsliberaler ein großer Freund des Freihandels, liegt aus ideologischen Gründen allerdings mit Brasiliens linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva – dem Staatschef der größten Wirtschaftsmacht der Region und Argentiniens wichtigstem Handelspartner – über Kreuz.

Milei in Hamburg ausgezeichnet

Milei war bereits am Samstag in Deutschland eingetroffen und hatte in Hamburg die Medaille der liberalen Friedrich August von Hayek-Gesellschaft erhalten.

„Sie bringen den Kapitalismus aus der Defensive“, sagte der Vorsitzende des Ökonomen-Verbandes, Stefan Kooths, in seiner Laudatio. Er verglich Mileis Politik mit einer Chemotherapie. „Die Nebenwirkungen sind heftig“, sagte der Kieler Wirtschaftswissenschaftler. Aber ohne eine solche Therapie wäre Argentinien am Ende.

Gegen Mileis Besuch gab es in Hamburg wie in Berlin Proteste. An einem Protestzug in der Hansestadt nahmen bis zu 360 Menschen teil. Unter dem Motto „Kein Preis für extreme Rechte, keine Medaille für Milei“ verlief der Zug laut Polizei von der Hafenstraße im Stadtteil St. Pauli zum Hotel Hafen Hamburg – wo Milei die Hayek-Medaille verliehen wurde.

Eine zweite Versammlung vor dem Hotel wurde demnach von den Organisatoren vorzeitig aufgelöst. Auch in Berlin versammelte sich am Sonntag eine kleine Gruppe von Demonstranten vor dem Bundeskanzleramt, um gegen Mileis Besuch zu protestieren.

Argentinien in der Wirtschaftskrise

Die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas steckt seit Jahrzehnten in einer schweren Wirtschaftskrise. Argentinien leidet unter einem aufgeblähten Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht.

Milei hat dem Land nun eine echte Rosskur verordnet: Die Regierung strich Tausende Stellen im öffentlichen Dienst, kürzte Subventionen und wickelte Sozialprogramme ab.

„Es war immer klar, dass das nicht ohne Härten über die Bühne gehen wird, aber das haben wir den Leuten immer klar kommuniziert“, sagte Milei bei seinem Vortrag vor der Hayek-Gesellschaft. „Wir haben gesagt, dass es kein Geld gibt, dass es hart werden wird, dass der Anfang schwer werden wird, aber dass wir schließlich gute Ergebnisse erzielen werden.“

Vor Scholz haben bisher auch andere Staats- und Regierungschefs Milei seit dessen Amtsantritt vor einem halben Jahr empfangen: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, El Salvadors Präsident Nayib Bukele und Papst Franziskus als Staatsoberhaupt des Vatikans.

Die für argentinische Präsidenten üblichen Reisen in die wichtigen Nachbarländer wie Brasilien und Chile ließ Milei wegen ideologischer Differenzen ausfallen.

In den USA war er zwar bereits mehrfach, ohne Termin im Weißen Haus. Stattdessen traf er sich mit Tesla-Boss Elon Musk und dem früheren Präsident Donald Trump, mit dem er häufig verglichen wird.

Früher eines der reichsten Länder der Welt

Argentinien war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der reichsten Länder der Welt, ist aber seitdem wirtschaftlich stark zurückgefallen. Der frühe Reichtum basierte hauptsächlich auf dem Export von Agrarprodukten wie Getreide und Rindfleisch. Diese Abhängigkeit von Rohstoffen machte das Land anfällig für Preisschwankungen auf dem Weltmarkt.

Im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA oder Kanada gelang es Argentinien nicht, eine starke, innovative Industrie aufzubauen. Das Land blieb zu lange auf seine traditionellen Exporte fokussiert.

Die von linken Regierungen, insbesondere unter Juan Perón, eingeführte Politik der Import-Substitution (ISI) führte zu ineffizienten, geschützten Industrien und einer Vernachlässigung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Argentiniens linke Regierungen neigten dazu, den Staat stark in die Wirtschaft eingreifen zu lassen, was oft zu Ineffizienzen und Korruption führte. Höhere Löhne und Sozialleistungen belasteten den Staatshaushalt und trugen zur Inflation bei.

Das einst vorbildliche Bildungssystem Argentiniens hat an Qualität eingebüßt, was die Entwicklung von Humankapital und Innovation behindert. Argentinien hat sich im Laufe der Zeit immer stärker verschuldet, was zu finanzieller Instabilität und Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern führte.

Besuch in Spanien und in Tschechien

Vor seiner Reise nach Deutschland hatte Milei am Freitag zum zweiten Mal binnen weniger Wochen Spanien besucht – und dort erneut Irritationen ausgelöst. Wie bereits Mitte Mai traf Milei sich nicht mit dem sozialistischen spanischen Regierungschef Pedro Sánchez.

Er erhielt in Madrid von einem wirtschaftsliberalen Institut für seine Politik eine Ehrenmedaille. An der Zeremonie nahm die konservative Regionalpräsidentin von Madrid, Isabel Díaz Ayuso, teil, die als Shootingstar der Opposition gilt.

Bei seiner Dankesrede attackierte Milei den spanischen Regierungschef und gelernten Wirtschaftswissenschaftler Sánchez erneut. „Obwohl er Wirtschaft studiert hat, hat er es entweder nicht verstanden hat oder er liebt den Staat wirklich“, sagte Milei. Am Montag will Milei Tschechien besuchen.

(afp/dpa/red)



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