Altkanzlerin Merkel: Ampel-Wutrede von Scholz würdelos

Einen Bundeskanzler sollte stets die Würde leiten, erinnert Angela Merkel. Die frühere Kanzlerin sagt: „Politik ist nicht das richtige Betätigungsfeld für Leute, die in Mitleid versinken.“
French President Macron State Visit To Germany: Berlin
Die frühere Kanzlerin Angela Merkel (r) und Olaf Scholz bei einem Empfang des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Schloss Bellevue am 26. Mai 2024 in Berlin.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Epoch Times22. November 2024

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hält die Wutrede von Olaf Scholz (SPD) anlässlich des Kollapses seiner Regierung für „kein Paradebeispiel für Würde“.

„Der Bundeskanzler führt das Verfassungsorgan Bundesregierung an. Sein Amt hat eine Würde, und die sollte einen stets leiten“, sagte Merkel dem „Spiegel“. Auch sie selbst hätte im Amt „harte Bandagen“ zu spüren bekommen und hält es für „unmenschlich, darauf immer nur nüchtern und ausgewogen zu reagieren“.

Merkel: Kanzler müssten Krisen mit sich selbst ausmachen

Trotzdem müssten Bundeskanzler solche Krisen mit sich selbst ausmachen. „Man verspürt eine Menge Emotionen, aber besser ist, man schreit die Wand in seinem Büro an als die deutsche Öffentlichkeit“, sagte Merkel.

„Ich konnte mich als Kanzlerin auch nicht tagelang in meinem Gemütszustand aufhalten, sondern musste die Wut hinter mir lassen und schauen, dass ich vorankomme.“ Das Lob seiner Anhänger für den Klartext-Auftritt von Scholz kann Merkel zwar nachvollziehen. „So ein Effekt hält meist nicht lange, und das beobachte ich auch hier.“

Merkel beobachtete nach Scholz` Auftritt „auch ein bisschen Unwohlsein im Publikum. Manche dachten: Wenn unser Bundeskanzler so außer Rand und Band ist – oh Gott, oh Gott – wie schlecht steht es dann um unser Land“.

Als junge Politikerin litt Merkel unter den Angriffen und Gehässigkeiten gegen sich als Frau. „Am Anfang meiner politischen Arbeit war ich oft sehr verstört, wie ich angefeindet wurde“, sagte sie dem „Spiegel“. Aber sie sei „rückblickend sehr dankbar dafür, dass man mich damals nicht in meinem Selbstmitleid bestärkt hat“.

In der Politik sei zu große Empfindlichkeit ein Nachteil, findet die langjährige Kanzlerin: „Politik ist nicht das richtige Betätigungsfeld für Leute, die in Mitleid versinken. Überhaupt glaube ich, wenn man Karriere machen möchte, darf man nicht zu feinfühlig sein.“

Die erste Frau im Amt der Regierungschefin sagte, sie habe sich „nicht groß Gedanken gemacht, dass mit mir als Frau eine tolle Symbolik verbunden wäre. Ich war manchmal auch enttäuscht von Frauen. Dass wir untereinander immer solidarisch sind, ist nicht meine Erfahrung“.

Ist Merz als Kanzler geeignet?

Ob Friedrich Merz als Kanzler geeignet sei, wollte Merkel nicht beantworten. „Er muss jetzt einen Wahlkampf führen, in dem er das beweisen kann.“ Aber wer es zum Kandidaten für das Kanzleramt schaffe, „muss über irgendwelche Eigenschaften verfügen, die ihn dazu befähigen“.

In Merkels Autobiografie „Freiheit“, die am 26. November erscheint, spielt die weibliche Identität der Politikerin eine große Rolle.

Den Konflikt zwischen den früheren Ampelpartnern Olaf Scholz und Christian Lindner quittierte Merkel mit dem Ausruf: „Männer.“ Es sei typisch männlich, „Dinge zu persönlich zu nehmen. Das sollte man in der Politik tunlichst vermeiden.“

2015: Für offene Grenzen

Merkel verteidigt das Offenhalten der deutschen Grenzen während der Flüchtlingskrise von 2015. „Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben“, sagte Merkel dem „Spiegel“.

„Die Vorstellung, zum Beispiel Wasserwerfer an der deutschen Grenze aufzustellen, war für mich furchtbar und wäre sowieso keine Lösung gewesen.“

Zu Forderungen der CDU, Asylbewerber an der Grenze zurückzuweisen, sagte Merkel: „Ich finde das nach wie vor nicht richtig.“ Denn: „Es ist doch eine Illusion anzunehmen, alles wird gut, wenn wir Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen.“

Sollte es der EU nicht gelingen, das Problem der illegalen Migration zu lösen, fürchtet Merkel „ein Stück Rückabwicklung der europäischen Integration, mit Folgen, die man nicht abschätzen kann“.

„Bringschuld“ der Deutschen gegenüber Zuwanderern

In ihrer Autobiografie schreibt sie, dass die verzweifelte Lage der Geflüchteten in Ungarn 2015 sie an die DDR-Bürger erinnert habe, die kurz vor dem Mauerfall in der westdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht gesucht hatten.

Aufgrund ihrer DDR-Erfahrungen verteidigte die Altbundeskanzlerin ihre Selfies mit Migranten: „Ein freundliches Gesicht bringt niemanden dazu, seine Heimat zu verlassen. Ich kenne viele Flüchtlinge aus der DDR. Niemand hätte sich auf den Weg gemacht wegen der Aussicht auf einen Handshake mit Helmut Kohl“, sagte Merkel dem „Spiegel“.

Ohnehin erwarte Flüchtlinge „hier in der Bundesrepublik auch nicht das tollste Leben“.

Ausdrücklich bejahte sie eine „Bringschuld“ der Deutschen gegenüber Zuwanderern: „Ohne die Offenheit und Veränderungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft kann es keine Integration geben. Voraussetzung ist ein Mindestmaß an Wissen über andere Kulturen, ich muss mich schon dafür interessieren.“

2017 mit FDP zu Jamaika-Koalition?

Die FDP habe sie „nie als einfachen Koalitionspartner erlebt“, sagte Merkel dem „Spiegel“. „Aber sie existiert, und Politik beginnt eben mit dem Betrachten der Realität.“

Sie hält es nicht für ausgeschlossen, dass ein Jamaika-Bündnis, wie sie es 2017 mit Grünen und Liberalen schmieden wollte, funktioniert hätte.

„Man kann doch vorher nie sagen, wie Koalitionen funktionieren. Jamaika wäre sehr viel Arbeit gewesen, und ich hätte viel mehr Zeit für die verschiedenen Partner aufwenden müssen. Aber die Frage hat sich ja nicht gestellt, weil Herr Lindner nicht wollte.“ (dts/red)



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