AKW-Aus fatal für Klimaschutz? Datenwissenschaftlerin hinterfragt Energiewende

Nach dem Atomausstieg wurde Kernenergie in Deutschland im Wesentlichen durch Kohle ersetzt. Die britische Datenwissenschaftlerin Dr. Hannah Ritchie zieht kritische Bilanz: „Kohle ist etwa 1.000-mal tödlicher als Atomkraft“.
Titelbild
Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm des Kernkraftwerks Isar 2 im bayerischen Essenbach. Die Zeiten sind vorbei, das Kernkraftwerk wurde am 15. April abgeschaltet.Foto: Armin Weigel/dpa
Von 26. Mai 2023

Nicht nur viele Kritiker des konsequenten Atomausstieges befürchteten dadurch für Deutschland fatale Folgen. Auch fürs Klima, denn die durch das Abschalten des Atomstroms entstandene Lücke könne nicht, wie es sich unter anderem Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorstellt, mit erneuerbaren Energien ausgeglichen werden. Das gab zum Beispiel auch der Vorsitzende des TÜV-Verbandes, Joachim Bühler, zu bedenken, denn stattdessen würde es „schmutzig“ werden: Atomstrom, der nicht aus regenerativen Energien gedeckt werden kann, müsse nun „durch Strom aus Kohle und Gas kompensiert werden – mit entsprechend schlechterer CO₂-Bilanz“.

Klimaeffekt verpufft – Gesundheit leidet

Auch die nackten Zahlen sagen das gleiche – die britische Datenwissenschaftlerin Dr. Hannah Ritchie zieht eine kritische Bilanz der Energiewende mit dem datenbasierten Fazit: Auch für die Angst-Trigger „Tschernobyl“ und „Fukushima“ gebe es keine belastbaren Zahlen: Kohlestrom und seine Auswirkungen forderten eine höhere Anzahl an Todesopfern als solche Katastrophen.

Diese und weitere kritische Worte zur deutschen Energiewende findet Dr. Hannah Ritchie, Forschungsleiterin bei Our World in Data, in einem „WELT“-Interview, in dem sie vorab klarstellt:

Deutschland habe zwar die Solar- und Windenergie ausgebaut, was zu begrüßen sei, aber durch das gleichzeitige Schließen der Kernkraftwerke einen Großteil des Zugewinns bei der Stromerzeugung durch Wind und Sonne gleich wieder zunichtegemacht: „Weil Kernkraft eine klimafreundliche Energiequelle ist“. Damit habe Deutschland eine kohlenstoffarme Quelle einfach nur durch eine andere ersetzt.

Atomausstieg kontraproduktiv für Klimawandel

Der Atomausstieg war laut Ritchie eine schreckliche Entscheidung im Kampf gegen den Klimawandel, weil im Gegenzug die Kohlekraftwerke hochgefahren wurden. Und das habe Auswirkungen: „Durch die hohe Luftverschmutzung mit Kohle, die stattdessen [anstelle der Kernkraftwerke, Anm. der Redaktion] hätte abgeschaltet werden können, wird der Atomausstieg zu einer Verschlechterung der Gesundheit der Deutschen beigetragen“, konstatiert die Datenwissenschaftlerin. Denn obwohl in Deutschland die Kohleförderung zwar reduziert wurde, ist der Rückgang nicht so schnell erfolgt, wie er hätte sein sollen.

Das Hauptproblem der deutschen Energiewende

Die Forscherin sieht im Atomausstieg das Hauptproblem für die deutsche Energiewende. Denn Kernkraft sei im Grunde eine sichere und kohlenstoffarme Stromquelle, während Deutschland jetzt weiterhin stark von Kohle abhängig ist.

Dadurch, dass Deutschland so konsequent aus der Atomenergie ausgestiegen ist, hat sich aber auch der Ausstieg aus der Kohle verzögert, und das trägt automatisch zum Klimawandel und zur Luftverschmutzung bei.

Beispielrechnung Atomausstieg: Was wäre, wenn nicht …

Ritchie führt eine Beispielrechnung an, wie eine Entwicklung ohne Atomausstieg hatte aussehen können, dabei anmerkend, dass hier der genaue Strommix ohne Atomausstieg nicht exakt beziffert werden kann. Nach den Berechnungen der Datenexpertin hätte es aber so laufen können: „Zwischen 2010 und 2022 hat Deutschland mehr Atomkraft vom Netz genommen als Kohle. Es reduzierte den Kernkraftstrom um 104 Terawattstunden (TWh) und den Kohlestrom um lediglich 82 TWh.“

Beim gegenteiligen Szenario – Atomenergie wäre am Netz geblieben und Kohle durch erneuerbare Energien ersetzt – hätte der Kohleausstoß um 186 TWh zurückgehen können. Das ist mehr als doppelt so viel, wie aktuell verzeichnet wird. In Zahlen: Deutschland bezieht immer noch 31 Prozent seines Stroms aus Kohle. Dieser Wert hätte bei nur 13 Prozent gelegen, wenn die Kernkraftwerke seit 2010 nicht abgeschaltet worden wären.

Reihenfolge sei entscheidend

Auch weist Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarländern noch immer einen höheren CO₂-Ausstoß pro Stromeinheit auf. Dies liege laut der Datenexpertin daran, dass Deutschland immer noch stark auf Kohle angewiesen ist. In Europa plant die Mehrheit der Länder den Ausstieg aus der Kohle, während Deutschland sich erst bis 2038 zu diesem verpflichtet hat.

Bei der deutschen Energiewende werde die Prämisse „Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“ verfolgt. Das ist laut der Wissenschaftlerin zugleich das Problem, denn Deutschland legt mehr Wert auf die Abschaffung von Uran – sprich von Atomkraft – als auf die Abschaffung fossiler Brennstoffe. Die Reihenfolge hätte ihr zufolge andersherum sein sollen. Jetzt ist Deutschland sogar eines der letzten Länder in Europa, das aus der Energiegewinnung durch Kohle aussteigen wird.

Deutschland hätte laut der Datenwissenschaftlerin so viel Energiegewinnung durch Kohle wie möglich abschaffen sollen, bevor eines seiner Kernkraftwerke geschlossen wurde.

In Sachen Sicherheit: Atomkraft weit vor Kohle

Dem Hauptargument der Atomkraftgegner, dass diese gefährlich sei, sagt Datenexpertin Ritchie: „Trotz der großen und seltenen Atomkatastrophen wie Tschernobyl und Fukushima ist die Kernenergie heute unglaublich sicher. Vor allem im Vergleich zu Kohle“, und setzt der Angst Zahlen entgegen.

Beim Vergleich zwischen Atomkraft und Kohle errechnet sie den Faktor „Sicherheit“ wie folgt: Zugrunde als Basis legt die Datenexpertin die Sterberaten – gemeint ist die Zahl der Todesfälle, die man pro Stromerzeugungseinheit erwarten würde –  und vergleicht verschiedene Stromquellen. Das Ergebnis davon ist, dass Todesfälle durch Atomkraft und erneuerbare Energien um Größenordnungen niedriger sind als Kohle. Kohle sei demnach sogar circa 1.000-mal tödlicher als Atomkraft.

Aber selbst diese Zahl ist nach Ritchies Dafürhalten noch eine Unterschätzung. Zumal bei dieser Berechnung künftige Auswirkungen des Klimawandels noch nicht berücksichtigt seien.

800 zusätzliche Tote in Deutschland pro Jahr durch Kohleverschmutzung

Zu der Diskrepanz zwischen den errechneten Zahlen und der öffentlichen Wahrnehmung sagt die Expertin: „Wir überschätzen die Gefahren der Atomkraft und unterschätzen jene der Kohle, weil die Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe oft verborgen bleibt. Dennoch sterben weltweit jedes Jahr Millionen Menschen daran.“

In Bezug darauf, was all das für den deutschen Atomausstieg und Deutschland bedeutet, beruft sich die britische Wissenschaftlerin auf  Studien, die sich mit den Auswirkungen des deutschen Atomausstiegs auf die lokale Schadstoffbelastung befasst haben und ergeben, dass der Atomausstieg zwischen 2012 und 2019 in Deutschland zu rund 800 zusätzlichen Todesfällen pro Jahr geführt hat. Das bedeutet mehr als 6.000 zusätzliche Todesfälle in Deutschland in mehr als einem Jahrzehnt.

Tschernobyl und Fukushima: Weniger Todesopfer als durch Kohleverschmutzung

Im Vergleich zu den tatsächlichen Todesopfern von Tschernobyl und Fukushima ist es wahrscheinlich, dass bei diesen Katastrophen insgesamt weniger als 1.000 Menschen gestorben sind: „Nur eine Person starb in Fukushima an Strahlung“, sagt die Wissenschaftlerin. Selbst die höchsten Schätzungen für diese Katastrophen lägen unter den Tausenden von zusätzlichen Todesfällen in Deutschland durch Kohleverschmutzung.



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