Ahrweiler: Viel geleistet – aber noch viel zu tun
Samstagnachmittag in der Altstadt von Ahrweiler: Wanderer haben ihre Ausflüge in den malerischen Weinbergen des Ahrtals beendet und kehren in den zahlreichen Gaststuben innerhalb der Stadtmauern ein. Oder sitzen draußen auf dem Marktplatz im Schatten von Sankt Laurentius und picheln einen Roten oder Weißen. – Das war vor der Flut.
Heute, gut drei Monate nach dem Jahrtausendhochwasser, verirrt sich kaum ein Ausflügler hierhin. Warum auch, die Einkehrstuben haben alle geschlossen. Ein Gang durch die Gassen macht einen verlassenen Eindruck. Schaufenster sind immer noch schlammverschmiert oder wurden durch Holzplatten ersetzt, die Fußgängerzone ist hier und da aufgerissen, Stromkabel ragen aus dem Boden, vereinzelt stehen große schwarze Brauchwassercontainer vor den Häusern. Verlassen steht in einer Ecke eine Metallplatte mit der Aufschrift „Wir sind das blühende Leben“ – der Hinweis auf die Landesgartenschau, die im nächsten Jahr in Bad-Neuenahr-Ahrweiler stattfinden sollte.
Auf Holzbretter montierte Briefkästen sind auf das blanke Mauerwerk montiert, der Putz ist runter. Namen auf Zetteln inklusive Handynummern draufgeklebt. Nach dem Motto: Die Klingel funktioniert nicht, aber ich bin zu erreichen. Oder: mein Geschäft ist zerstört, bin aber trotzdem für die Kunden da. Oder: XYZ hat hier die Bauleitung.
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Irgendwie sieht das noch nicht danach aus, als könnte die Stadt zu alter Blüte gelangen. Dennoch, bei genauerem Hinschauen gibt es positive Anzeichen. In zahlreichen Geschäften dröhnen im Hintergrund die Bautrockner, von Baustrahlern beleuchtet wird vereinzelt gearbeitet. Der Blick durch verschmutzte Fenster zeigt: Der Estrich ist oft schon raus; Bodenplatten liegen in bis oben hin gefüllten Containern. Bis alles trocken ist, braucht es Zeit; bis man die richtigen Gutachter und Handwerker hat, braucht es Zeit; bis das Geld vom Bund kommt, braucht es Zeit.
Ein Anwohner rechnet damit, dass es noch bis nächstes Jahr dauert, bis die Geschäfte wieder öffnen. Alle arbeiteten fleißig. Probleme bereiten auch die alten Gewölbekeller der Fachwerkhäuser. Die Feuchtigkeit drückt immer wieder raus.
Um die Versorgung vorübergehend sicherzustellen und den Gewerbetreibenden zu helfen, errichtet die Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler sogenannte „Pop-up-Malls“, die ab November betrieben werden sollen. Hier können sich Betriebe Ladenflächen in messezeltartigen Hallen oder Containern anmieten. Sogar ein doppelstöckiges Einkaufszentrum für bis zu 39 Ladeneinheiten ist geplant.
Nach dem Schock die richtigen Entscheidungen treffen
An diesem Samstag könnte man die Ahr in Gummistiefeln durchqueren, so wenig Wasser führt sie. Doch die zerstörte Brücke am Ahrtor zeigt, welche Gewalten hier am 14./15. Juli gewirkt haben. Ende September wurde direkt neben den alten Brückenköpfen vom THW eine Behelfsbrücke für Autos errichtet und 150 Meter weiter ist eine Fußgängerbrücke entstanden.
Ich überquere die Brücke und schon nach 200 Metern bin ich bei Christoph Bäcker. Das Erdgeschoss ist eine einzige Baustelle: Boden entfernt, Wände aufgerissen, Trockner laufen. Bis hierhin ist das Hochwasser von 2016 nicht gekommen, aber dieses Jahr im Juli hat das Wasser in der Wohnung 1,50 Meter hoch gestanden. Immerhin: Die Toilette funktioniert. Er sagt: „Ich bin dreifach betroffen“. Mit seiner Frau Martina wohnt er im ersten Stock.
Dem Biowinzer ist auch sein Weinkeller in Walporzheim – nur einige Autominuten von hier – abgesoffen, 5.500 Liter Wein in Holzfässern wurden vernichtet. Ebenso: viele elektrische Geräte. Sowohl hier als auch privat ist er unversichert. Die Bundeshilfe hat er für sein kleines Einfamilienhaus bereits beantragt. Das Ausfüllen fand er kompliziert. Den Antrag für seinen Betrieb auszufüllen, dafür hat er noch keine Zeit gefunden. Er ist pessimistisch. „Bis zu 80 Prozent kann man bekommen, aber von was? Bei einem Gerät mit einem Buchwert von einem Euro wären das 80 Cent, das macht keinen Sinn.“
Auch rund 30 Prozent seiner Anbauflächen sind überflutet worden. Was mit den Flächen passiert, weiß er noch nicht. Erste Untersuchungen haben aber eine schwache Bodenbelastung ergeben.
Die Perspektiven sehen für den Sechzigjährigen ohne Nachfolger nicht gut aus, denn bis neue Reben tragen, dauert es einige Jahre. Und die Investitionen sind erst einmal immens, auch wenn er schon Sachspenden in Form einer Traubenmühle und Pumpe erhalten hat. Ganz klar darüber, wie es weitergeht, ist er sich daher noch nicht. Immerhin ist die diesjährige Ernte mit vereinten Kräften von freiwilligen Helfern, Familie und Freunden eingefahren worden. Obgleich dieses Jahr witterungsbedingt nicht die besten Erträge gebracht hat.
Herr Bäcker beschreibt seine Befindlichkeit im Laufe der Wochen: „Zuerst kam der Schock, später dachte ich, es geht nicht mehr, es ist alles vorbei.“ Die Hilfen von außen hätten ihm später die Energie gegeben, etwas anzufangen: „Man muss sich bewusst entscheiden, dass man jetzt anfängt, was zu tun.“ Die schwierige Lage habe ihn überfordert: „Es war zu viel, alles gedanklich aneinanderzureihen und die richtigen Entscheidungen zu treffen“. Eine wichtige Entscheidung war: Das Wohnhaus hat Priorität. Bei allen Herausforderungen bietet ihm der Zusammenhalt in der Familie Rückhalt.
Eine „große Familie“ für Betroffene
Nur ein paar Schritte zur Ahr zurück. Dort befindet sich am Ufer des Flusses die „Ahrche“. Die kleine Ansammlung von Zelten und Containern, die sich spontan auf dem völlig überschwemmten ehemaligen „Campingplatz am Ahrtor“ gebildet hat, ist ein Anlaufpunkt für Betroffene aus dem Stadtteil Kalvarienberg. Frühstück und zwei warme Mahlzeiten pro Tag, Friseur, Waschsalon und Fahrradverleih gibt es hier. In einem kleinen Gruppenraum wird Uno gespielt. Es gibt Kürbisschnitzen und Backen für Kinder. Für diese Woche hat sich eine christliche Gruppe zu einem religiösen Austausch angekündigt.
Für die kalte Jahreszeit vermittelt der Verein Ahrche e.V. Betroffenen kostenlose Klimageräte. Diese mit Strom betriebenen Heizungen sollen dorthin Wärme bringen, wo nichts mehr läuft. Über einen Spendenaufruf des rheinland-pfälzischen Regionalsenders RPR für das Projekt kam eine halbe Million Euro zustande und ermöglicht 400 Haushalten eine einigermaßen warme Wohnung.
Positiv denken und gemeinsam weiterkommen
Dass die Hilfe im Tal ankommt, dafür sorgt auch weiterhin das Helfer-Shuttle (www.helfer-shuttle.de) in der nahen Grafschaft. Hier finden sich die Helfer ein und werden mit Bussen zu ihren Einsatzgebieten gebracht. Heutiger Schwerpunkt war Dernau. 500 Helfer wurden in den schwer betroffenen Ort in Tallage gebracht, 1.500 weitere auf verschiedene Orte verteilt. Immer noch ist Estrich stemmen angesagt. Nach wie vor werden Helfer dringend gebraucht. Jedoch gibt es ein Ungleichgewicht zwischen dem Helferaufkommen am Wochenende und den normalen Arbeitstagen.
Die generalstabsmäßige Organisation hat ein ganzes Lager aus allem, was benötigt wird, entstehen lassen: warmes Essen, Erste Hilfe, Werkzeuge, Seelsorge, sogar Massage für die Helfer. Stellplätze für Wohnmobile und Zelter. Und: Ein beheiztes Aufenthaltszelt in Partyzeltgröße für die kalte Jahreszeit, denn auch im Winter soll die Hilfe weitergehen.
Ich spreche mit „Michael 3“ aus dem Orgateam über die teils lautstarken Angriffe auf Verwaltung und Politik. Er glaubt, dass alle ihr Bestes geben und mahnt zur Besonnenheit. Verwaltungen arbeiteten nach einem anderen Takt und müssten auch sorgfältig mit Steuergeldern umgehen. Darüber hinaus seien auch sie Betroffene. Und Betroffene müssten das Erlebte verarbeiten, was auch eine sachliche Sicht auf die Situation verhindern kann. „Es hilft nichts, wenn wir aufeinander schimpfen“, sagt er, „wir müssen positiv denken und mit der Energie, die wir haben, gemeinsam weiterkommen“.
Wandern für den Wiederaufbau
So nennt sich eine Initiative der vom Hochwasser stark betroffenen Ahr-Orte Mayschoss, Rech und Dernau. Auf einer 15 Kilometer langen Strecke des Rotweinwanderweges konnten Besucher an den Wochenenden im Oktober durch die herbstliche Blätterfarbenpracht der Weinberge wandern und an Ständen unterwegs Kleinigkeiten essen und trinken. Damit und mit dem Kauf eines Solidaritäts-Armbändchens und -Weinglases konnte man zur finanziellen Unterstützung des Neuaufbaus beitragen.
Doch kann man es sich so einfach gut gehen lassen, während unten im Tal die Zerstörung groß ist und schwer gearbeitet wird? Auf der Facebook-Seite des Rotweinwanderwegs finden sich Posts von Wanderfreunden, die am 24. Oktober bei schönstem Sonnenschein unterwegs waren und viele Mitstreiter hatten:
Cornelia Voigt: Ja– ich habe die Zerstörung gesehen – als ich mit dem Shuttlebus durch die Dörfer fuhr, habe ich mir die Frage gestellt ob es richtig ist hier wandern zu gehen und war kurz davor wieder zum Auto zu gehen. Ich bin froh das ich es nicht gemacht habe. Jeder Schritt auf dem Rotweinweg, jeder Halt an den Ständen, der Weg zu Fuß zurück durch Dernau, hat in mir nur die Hochachtung vor den Betroffenen und den vielen Helfern vergrößert.
Ute Stefanie: Wir haben selber schon häufiger geholfen, gestern dann mit Freunden gewandert, unsere Freunde aber auch wir sind immer noch und wieder schockiert wie es aussieht. Wir kommen wieder, zum Helfen oder zum Wandern.
Heike Hoier: Es war sehr schön, die vielen Menschen zu treffen. Und es war auch gut, die betroffenen Ortschaften mit sehr großem Respekt, mit Bauchschmerzen, mit Tränen in den Augen und Trauer zu sehen und trotzdem an die Hoffnung zu glauben, dass es auch irgendwann wieder schön sein wird und es den Menschen wieder gut gehen wird. Ausserdem hat es gut getan, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. (…) Wir werden euch nicht vergessen.
Sigrid Yakisir: Waren heute auch dort und hoffen sehr, dass es wieder aufwärts geht. Doch leider mussten wir auch sehen, dass viele einfach ihrer leeren Flaschen im Weinberg entsorgen. Es ist doch wirklich schon genug geschehen, da muss man seinen Müll nicht auch noch da lassen.
Barbara Hackert: Zuerst [ist es] befremdlich, durch die Zerstörung zu laufen. Am Ende ist es aber wichtig, denn dann passiert es: man verliebt sich in diesen Ort.
Monika Sommer: Das ist mir zu viel Trubel.
Marlon Schmidt: Man weiß heute nicht was man über das Ahrtal denken soll. Das pre-Corona Ahrtal war eine Oase des Lebens und Lebensfreude. Dann kam Corona und kaum woanders habe ich die Menschen so verängstigt und streitlustig wie im gleichen Ahrtal erlebt. (…) Letztes Wochenende war ich im Ahrtal wandern und konnte diese bekannte Freundlichkeit wiedererkennen, Menschen welche nicht mehr auf Abstand bestehen, welche sich umarmen und nett begrüßen. Ich musste über all das wirklich erst Nachdenken.
Infos: www.ahrtal.de
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