ADHS wird bei früh eingeschulten Kindern häufiger diagnostiziert
Kinder, die früh eingeschult werden, haben ein erhöhtes Risiko für eine ADHS-Diagnose. Das geht aus Daten des Versorgungsatlasses hervor, wie die „Süddeutsche Zeitung“ vorab berichtet. Demnach gilt jedes 20. Kind, das kurz nach seinem sechsten Geburtstag zur Schule kommt, als hyperaktiv.
Unter den mit fast sieben Jahren eingeschulten Kindern ist es nur jedes 25., fanden Wissenschaftler um die Volkswirtin Amelie Wuppermann von der Universität München heraus, nachdem sie die Daten von rund sieben Millionen gesetzlich versicherten Kindern zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011 analysiert hatten. Die jung eingeschulten Kinder nehmen demnach auch erheblich häufiger Medikamente gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, im Volksmund auch Zappelphilipp-Syndrom genannt. Es sei zu befürchten, dass viele dieser Diagnosen bei den Jüngsten schlicht nicht stimmen, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater Martin Holtmann von der LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum zur SZ: „Wahrscheinlich ist, dass die Kinder aufgrund ihrer relativen Unreife im Klassenverband eher negativ auffallen“. Dafür spricht auch, dass die Diagnose ADHS unter den Jüngsten besonders häufig gestellt wird, wenn Klassen sehr groß sind oder viele ausländische Kinder zur Klassengemeinschaft gehören. Wahrscheinlich fallen unter solchen erschwerten Unterrichtsbedingungen die agilen Jüngsten am ehesten negativ auf. Dass die Kinder tatsächlich häufiger unter ADHS leiden, etwa weil sie in der Schule wegen ihres jungen Alters überfordert sind, schließt Holtmann aus. „Man vergleicht natürlich automatisch die Kinder innerhalb einer Klassengemeinschaft“, so der Psychiater, dabei wirkten die Jüngsten naturgemäß eher zappelig. Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Manfred Döpfner von der Universitätsklinik Köln appelliert an Lehrer, sich das Alter der einzelnen Schüler stärker zu vergegenwärtigen. „Ein jüngeres Kind hat oft größere Schwierigkeiten, den Anforderungen an Ausdauer und Konzentration in einer Schulklasse gerecht zu werden.“ Lehrer stellen aber weitgehend die gleichen Anforderungen an alle Kinder einer Klasse. Und Ärzte lassen sich damit in ihren Diagnosen anstecken: „Kinderpsychiater stellen ihre Diagnosen nicht im luftleeren Raum“, sagt Martin Holtmann. Sie lassen sich von entnervten Lehrern beeinflussen und von verzweifelten Eltern, die Sorgen haben, dass ihr Kind in der Schule womöglich abgehängt wird. „Da kann sich leider nicht jeder Arzt davon frei machen“, so Holtmann. Die Folge aber ist, dass die Jüngsten in der Klasse den Stempel bekommen, krank und behandlungsbedürftig zu sein. Und einige bekommen auch unnötigerweise Medikamente gegen ihr angebliches ADHS, die sich wiederum negativ auf Schlaf und Wachstum auswirken können und das Risiko für Herzprobleme heraufsetzen. „Bei einem wirklich unter ADHS leidenden Kind kann die Behandlung ein Segen sein, weil ein solches Kind dann nach einer langen Zeit der Ablehnung und des Gefühls, nichts zu taugen, in die soziale Gemeinschaft integriert werden kann“, sagt Martin Holtmann. „Aber eine nicht indizierte Behandlung bei einem Kind, das nicht krank, sondern einfach nur jung ist, sollte unbedingt vermieden werden.“
(dts Nachrichtenagentur)
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