Absender: Kanzleramt – Richtlinienkompetenz per Brief
Eigentlich wollte er seine Richtlinienkompetenz nicht in der Form durchsetzen, „dass ich jemandem einen Brief schreibe: Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende“. So jedenfalls hatte es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf seiner Sommer-Pressekonferenz vor gut zwei Monaten noch gesagt. Aber im koalitionsinternen Streit über verlängerte Atomlaufzeiten ging nun doch ein Schreiben an die zuständigen Ministerien: Drei deutsche Atomkraftwerke sollen bis maximal Mitte April 2023 weiterlaufen können.
In Artikel 65 des Grundgesetzes ist geregelt, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt. Darunter fallen die groben politischen Leitlinien und Richtungsentscheidungen, aber auch bedeutende Einzelfälle. Über dieses Kanzlerprinzip kann der Regierungschef einem Minister Weisungen erteilen – dieser soll zwar sein Ressort eigenverantwortlich führen, aber eben innerhalb dieser Richtlinien.
In der Vergangenheit wurde das Instrument kaum angewandt, sondern eher als Warnung eingesetzt. So hatte etwa der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Dezember 1998 dem damaligen Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) im Streit über den Atomausstieg mit seiner Richtlinienkompetenz gedroht.
Streit um Führungsrolle
Unter Schröders Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) gab es sogar eine Auseinandersetzung über ihre Führungsrolle auf offener Bühne. Im Sommer 2018 erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), er wolle Merkels Richtlinienkompetenz missachten und im nationalen Alleingang eine Abweisung von Flüchtlingen an den Grenzen anordnen.
Im April 2016 hatte die Kanzlerin noch gegen den Willen ihres Koalitionspartners SPD entschieden, dass eine strafrechtliche Ermittlung gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten zugelassen wird.
Wie ein Kanzler die Richtlinienkompetenz im Kabinett durchsetzt, ist nicht geregelt. Sie kann mündlich, schriftlich oder per Regierungserklärung erfolgen. Adressiert sind nur die Mitglieder der Regierung. Die Entscheidung über Gesetze liegt bei Bundestag und Bundesrat. Ein Kanzler hat kein direktes Mittel zur Hand, um die Durchsetzung seiner Richtlinie den Abgeordneten aufzuzwingen.
Der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) nutzte das Instrument sehr intensiv. Er machte seine Richtlinienkompetenz immer wieder in Kabinettssitzungen oder in Schreiben an Minister oder an alle Mitglieder des Kabinetts deutlich. (dpa/red)
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