94-Jährige im Gespräch: Ein Blick aus der Kriegsgeneration auf den Ukraine-Krieg

Anneliese *1928: „Ich lebe von dem, was ich hatte. Und ich bin dankbar dafür, weil mir dadurch viel durch den Kopf geht.“
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Foto: privat.
Von 8. Februar 2023

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Anneliese wurde 1928 geboren. Sie geht regelmäßig spazieren und kauft vieles für den täglichen Bedarf noch selbst ein. Sie muss bis in den dritten Stock ihrer Wohnung hinauf ordentlich Treppen steigen.

Anneliese gehört der Kriegsgeneration an. Ihr Vater Fritz hat als junger Mann den gesamten Ersten Weltkrieg durchgemacht und kam im zweiten Krieg noch in den Volkssturm.

In letzter Zeit denkt Anneliese wieder viel über die Hitlerzeit nach, über die Flucht, über Hunger, über Kälte und Elend. Anneliese weiß, was Krieg bedeutet. An einem kalten, aber sonnigen Sonntag Anfang Februar 2023 erzählt sie, wie es ihr heute geht, was sie umtreibt und wie sie die Nachrichten aus dem Krieg in der Ukraine erlebt.

Epoch-Times-Autor Alexander Wallasch im Gespräch mit seiner 94-jährigen Tante:

In der Ukraine sind Millionen Menschen vor dem Krieg auf der Flucht. Was denkst du, wenn du die Bilder siehst? Kommen da eigene Erinnerungen hoch, wie geht es dir dabei?

Ich werde jetzt wieder nachts von den Russen gejagt im Traum. Und dann ist mir aufgefallen – ich habe meinen Atlas genommen, der ist aus den 70er-Jahren – und da habe ich gesehen, dass die Ukraine, dass die Krim, alle die Namen, die Städtenamen, alle zur Sowjetunion gehören, auf dem Atlas.

Und da habe ich so gedacht, wer hat denn Interesse gehabt, die alle selbstständig zu machen? Ich stell mir vor, die Bayern würden einen eigenen Staat gründen – oder die Schleswig-Holsteiner. Das war doch ein Fortschritt – der Zusammenschluss.

Aber das war ja ein Zusammenschluss unter Kommunisten. Sicher wollten die Ukrainer da mal raus.

Naja, ich weiß es auch nicht. Also irgendwo bin ich nicht mehr so auf Seite der Ukrainer, wie ich das am Anfang war.

Jetzt gibt es ja die Diskussionen um Waffenlieferungen. Erst bekamen die Ukrainer nur Helme, jetzt schwere Panzer. Und nach Flugzeugen rufen sie auch schon. Was kommt denn als Nächstes? Wie soll das denn weitergehen?

Genau das ist das ja. Ich habe immer den Eindruck, dass irgendwelche Mächte da wirken, ob das Leute sind, die Geld haben oder ob das Leute sind, die Macht wünschen, oder ob das Leute sind, die mit Erdöl bezahlen können, weil sie so viele Gelder haben und nicht wissen, wohin damit. Aber es ist bestimmt kein Interesse an den Ukrainern.

Weißt Du noch wie das war mit der Aufrüstung unter Hitler, als der Überfall auf die Sowjetunion vorbereitet wurde? Die müssen ja irgendwann mal angefangen haben, ganz viele Panzer zu bauen und das alles. Was hast Du als Kind davon mitbekommen von der Aufrüstung?

Wer sich interessierte, bekam schon etwas mit. Mein Vater war mit mir mal in Kamenz gewesen und wir haben uns die Panzer dort angesehen. Das lag daran, dass die früheren Reitertruppen die ersten waren, die dann Panzer kriegten. Die Fürstensöhne oder die Söhne aus der Landwirtschaft, die konnten ja alle mit Pferden umgehen. Und weil die nun Panzer bekamen, interessierten sie sich eben für Panzer. Das sah man als Fortschritt an.

Ich habe jetzt gelesen, Stalin hätte in den Dreißigerjahren in der Ukraine Millionen Menschen verhungern lassen. Hast Du da irgendwas davon gelesen oder in der Schule noch mitbekommen?

Ich weiß es nicht. Du musst überlegen, ich war Jahrgang 1928. Und eine Zeitung hatte doch vor dem Krieg kein Mensch. Es gab im ganzen Ort, glaube ich zehn Leute, die Zeitungen hatten.

Hattet ihr einen Volksempfänger?

Nein, Vater wollte das nicht. Wir hatten keinen Volksempfänger. Und wir hatten keine Zeitung. Später, nachher dann, als ich lesen konnte, in Schwarzengrund, da hatten wir eine Zeitung.

Als die deutsche Wehrmacht die Ukraine überfiel, habt ihr da als Kinder oder Jugendliche Karten angeschaut oder verfolgt, wo die Wehrmacht jetzt steht?

Ja, ich hatte in meinem Zimmer eine große Europa-Landkarte an die Wand gepinnt. Und dann immer da wo die deutschen Truppen waren meine bunten Stecknadeln reingepiekt.

Aber dein Vater war schon zu alt. Er war zu Hause.

Ja, Vater war ja im Ersten Weltkrieg – da hat er alles von A bis Z mitgemacht. Und vorher war er zwei Jahre beim Militär, das war die Wehrpflicht und dann kam ja bald der Erste Weltkrieg.

Hatte dein Vater Angst vor dem zweiten Krieg? Wie sehr hat er sich gesorgt?

In Guteborn wurde die Rede Hitlers zum Kriegsbeginn im Saal über Lautsprecher gehört. Die Leute hatten nicht alle Radios. Da weiß ich noch, dass es hieß, seit heute Morgen 05:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Uns wurde erklärt, dass dort die Deutschen angegriffen wurden.

Musstet ihr dann in den großen Saal kommen, um das anzuhören? Wer hat das angeordnet?

Nein, die Prinzen in Guteborn waren ja nicht an Hitler interessiert. Aber sie mussten mitmachen, um ihre Güter zu erhalten. Ich weiß, dass meine Mutter oft sagte – die Eltern hatten ja immer mit den Adelshäusern zu tun durch ihren Beruf als Herrschaftsköche – dass Mutti sagte, dass jeden Tag so und so viel Bauern- und Gutshöfe versteigert werden mussten, weil sie Gelder nicht aufbringen konnten. Das war ganz übel. Und so etwas ist doch kein Zufall, dass plötzlich alle nicht mehr zurechtkommen.

Wenn man jetzt die ganzen Flüchtlinge aus der Ukraine sieht und so viel Schreckliches über den Krieg liest und schaut. Kannst Du noch mal sagen, was bedeutet eigentlich Hungern und Frieren? Das verstehen ja viele Leute hier gar nicht mehr.

Das gab es ja schon als Spruch, wenn die mit der Sammelbüchse herumliefen, die Kinder oder die Hitlerjungen oder die jungen Leute von der SA, dann hieß es immer: Keiner soll hungern und keiner soll frieren. Deswegen gab es den Eintopfsonntag.

Jetzt hast du das ja miterlebt mit Hungern und Frieren. Was bedeutet das denn konkret?

Na ja, du musst Dir überlegen, wir sind irgendwo losgezogen, dann ging der Zug nicht weiter oder die Straße war blockiert, da musst Du ja irgendwo weiterlaufen.

Das war während der Flucht?

Ja, auf der Flucht. Wir wurden getrieben und die Tschechen spuckten uns an und schmissen sonst was gegen die Flüchtlingstrecks. Wir wurden immer in irgendwelche Lager getrieben.

Wir waren zunächst aber auf der Flucht mit Lkw und Autos. Ich weiß nicht, wer damals die Fahrzeuge organisiert hat. Schon von Schwarzengrund her war es so, dass für die Leute vom Schloss ein Bus besorgt worden war – der war von der Wehrmacht. Und den hat auch ein Mann von der Wehrmacht gefahren.

Und dabei war noch ein Ukrainer, der war aber kein Kriegsgefangener, er wurde zur Arbeit in Deutschland festgehalten. Und die beiden haben den Bus dann immer wieder vom Eis befreit, gekratzt und so weiter. Denn es waren ja minus zwanzig Grad draußen.

Wir haben über Hungern und Frieren gesprochen – auch während der Flucht. Wie gingt ihr damit um?

Meine Mutter sagte: Wenn du Hunger hast und nichts zu essen, dann musst du irgendwo da in der Gegend vom Magen, in der Mitte des Leibes drücken, dann glaubt der Magen, es kommt jetzt was zum Essen. So kann man den Hunger für den Moment überlisten.

Wie wird man denn über 90? Was muss man richtig machen? Oder sind das die Entbehrungen?

Erst mal musst du die richtigen Gene haben und du musst auch vielleicht einigermaßen vernünftig essen. Also ich meine jetzt nicht an Vitamine denken und so. Schlimm ist die Völlerei. Wenn du dich immer vollstopfst, das ist nicht gut für den ganzen Kreislauf.

Und wie sieht das mit Bewegung aus?

Bewegen ist das A und O. Durch Bewegung wird etwas im Körper in Gang gehalten.

Und wie hälst du dich geistig fit?

Ich überlege ja auch immer, wie das kommt, dass ich noch denken kann, wenn ich im Bett liege und nicht schlafen kann. Ich habe vorhin auf meinem Spaziergang auch schon wieder über so vieles nachgedacht. Manche sagen: Anneliese, grüble nicht so viel. Aber ich grüble ja nicht mehr darüber, was ich morgen esse oder wie ich meine Familie sattkriegen kann. Das sind heute andere Sachen, worüber ich nachdenke.

In letzter Zeit fällt mir auf, du erzählst mehr über die Hitlerzeit, über die Flucht und so weiter. Weißt du, woran das liegt, dass dir das immer mehr in den Kopf kommt?

Ich komme doch seit zwei Jahren nicht mehr in die Stadt. Ich komme nicht mehr mit Fremden ins Gespräch, weil ich ja nur noch zu Hause sitze. Das hat mir die erste Zeit nichts ausgemacht. Und inzwischen ist das so – wenn ich dir mal ehrlich was sagen soll – dass mir tatsächlich nachts jemand fehlt, den man mal umarmen kann oder der – ja, was weiß ich – einem über den Rücken streicht, mehr ist gar nicht nötig, aber das fehlt mir sehr. Und dadurch ist das Alleinsein für mich jetzt auch nicht mehr so, dass ich denke: Wunderbar, du hast doch gekocht und du hast noch ein Buch gelesen und so weiter.

Die letzte Merkel-Regierung hat Millionen Euro freigemacht, um Einsamkeit zu bekämpfen. Ist davon etwas bei dir angekommen?

Na ja, dazu musst du ja irgendwo hingehen können. Da gibt es Gruppen, da wird dann ein Vortrag angeboten. Ich hatte je einen religiösen Kreis. Dadurch habe ich viele Leute kennengelernt, die woanders noch was hatten, was man mitmachen konnte. Zum Beispiel der Englischkurs, da hat eine Freundin ihren Freund kennengelernt. Und ich bin durch eine Frau nach Malta gekommen. Auch war ich auf Jersey …

Da habe ich jetzt in der Nacht, als ich wieder nicht schlafen konnte, gedacht: Die beiden Freundinnen sind verstorben, die das organisiert haben. Viele Bekannte gibt es nicht mehr. Andere werden sehr krank und so fehlt das alles. Dadurch lebe ich nur noch von dem, was ich hatte. Aber ich bin dankbar dafür, weil mir dadurch viel durch den Kopf geht.

Ist es denn im Alter schwieriger, auch mit Leuten warm zu werden?

Ja, du bist inzwischen dann doch festgelegt. Ich kann nicht mit primitiven Menschen umgehen. Ich wurde schon in der Hitlerjugend immer wieder zu Lehrgängen geschickt. Da muss ja irgendetwas an mir anders gewesen sein als bei den meisten. Ich konnte als Sportwartin alle Sportprüfungen abnehmen bis zu einem bestimmten Punkt, weil ich diesen Lehrgang in Ost-Oberschlesien gemacht hatte.

Mein Vater, der schimpfte, ich durfte nicht nach Prag, da war auch mal ein Lehrgang. Das war aber in der Schulzeit und während der Schulzeit, das hat Vater nicht erlaubt, nur in den Ferien. Aber bei Prag habe ich mich immer gefragt: War das nun, dass er Angst um mich in der Tschechei hatte? Oder war das nur eben wegen der Ferien?

Vielleicht wegen der Männer?

Na ich weiß nicht, ich war ja mit der Hitlerjugend in einer Ring- und Spielschar, also Theaterspielen und Chor. Und da war ich in Ostoberschlesien. Da war das so, wenn wir in der Turnhalle irgendwo gelagert haben, da lagen rechts die Mädchen, links die Jungs und da haben sich die Eltern dann hinterher aufgeregt. Aber uns war das völlig egal. Ich weiß von einer, mit der ich jetzt noch Kontakt habe aus meiner Schulklasse, deren Schwester, die hat dort ihren Mann kennengelernt.

Deine Mutter ist ja sehr alt geworden, über 90 …

93 …

Du bist jetzt noch älter als deine Mutter geworden und bist noch voll auf der Höhe …

Aber ich muss noch ein bisschen warten. Dann erreiche ich die 97 von der Oma aus Bunzlau, Vaters Mutter (lacht).

Danke für das Gespräch!


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