73 Millionen Euro Schaden 2020/21: AOK-Bericht deckt Fehlverhalten auf

Ärzte-Hopping, gefälschte Rezepte, Abrechnungen nicht erbrachter Leistungen. Die Möglichkeiten, sich Gelder und Leistungen zu erschleichen, sind vielfältig. Der entstandene Schaden ist immens. Die AOK drängt auf Maßnahmen, um den kriminellen Machenschaften einen Riegel vorzuschieben.
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Betrugsfälle im Gesundheitswesen sind keine Seltenheit.Foto: iStock
Von 28. Dezember 2022

Manipulation, Betrug, Korruption. Allein im Bereich der AOK sind dem Gesundheitswesen in den Jahren 2020/21 über 35,4 Millionen Euro durch Fehlverhalten entzogen worden. Das geht aus einem Bericht des AOK-Bundesverbandes aus Dezember 2022 hervor.

Allerdings sei der tatsächlich entstandene Schaden der beiden vergangenen Jahre deutlich höher, so die AOK. In der Auflistung der Forderungen seien nur die „unanfechtbar festgestellten Sachverhalte“ berücksichtigt worden. Die tatsächliche Schadenssumme liege bei rund 73 Millionen Euro, die Dunkelziffer sogar um ein Vielfaches höher.

„Während der Corona-Pandemie haben sich für die Fehlverhaltensbekämpfung ganz neue Herausforderungen ergeben“, schildert Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. Die Aufklärung der Fälle sei verzögert worden. Teilweise konnten gerichtlich angeordnete Durchsuchungsbeschlüsse oder Vor-Ort-Prüfungen des Medizinisches Dienstes nicht realisiert werden.

„Betrügerisches Verhalten“ einzelner Personen

Für den der Solidargemeinschaft entstandenen erheblichen finanziellen Schaden macht Susanne Wagemann, Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, „das betrügerische Verhalten“ einzelner Personen verantwortlich. Das auf diese Weise entzogene Geld stehe nicht mehr für die Versorgung Kranker und Pflegebedürftiger zur Verfügung. Aus diesem Grund sei es gerade in diesen für die Kranken- und Pflegekassen finanziell herausfordernden Zeiten wichtiger denn je, die Bekämpfung von Fehlverhalten zu stärken.

Im Zeitraum 2020/21 gingen laut AOK-Bericht insgesamt 9.382 Hinweise, Meldungen und Fälle bei der Staatsanwaltschaft ein. Das sind 1.700 Hinweise weniger als im Vorjahreszeitraum. Insgesamt wurden 7.400 Neufälle und 6.262 Bestandsfälle verfolgt und 7.432 Verfahren abgeschlossen. In erster Linie ging es um vermeintliches Fehlverhalten, das im Zusammenhang mit der Pflege und häuslichen Krankenpflege gemeldet wurden (1.943 Neufälle).

An zweiter Stelle liegen versichertenbezogene Leistungen (1.442 Fälle) wie Falschangaben bei Leistungsanträgen, Einlösen gefälschter Arzneimittelverordnungen in einer Apotheke oder der Missbrauch der elektronischen Gesundheitskarte. Auf dem dritten Platz liegen Arzneimittel-Fälle (1.294); hierunter fallen Rezeptmanipulationen und Delikte im Bereich Betäubungsmittel.

Fallbeispiele aus dem AOK-System

Pflegedienst 1

In einem Fall vom Jahr 2019 endete das Verfahren nach 15 Verhandlungstagen mit einem Urteil. Die fünf Verantwortlichen des Pflegedienstes wurden wegen banden- und erwerbsmäßigen Betrugs aufgrund von Abrechnung nicht erbrachter Leistung in Hunderten Fällen zu Haftstrafen von fünf Jahren und drei Monaten bis zu einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.

Im Urteil ist der entstandene Schaden mit drei Millionen Euro angegeben. Laut AOK liegt der den Kassen und Sozialhilfeträgern entstandene Schaden bei dem Dreifachen. Neben den fünf Hauptbeschuldigten wurden auch Verfahren gegen 17 Mitarbeiter des Pflegedienstes und sieben Versicherte/Angehörige eingeleitet. Vier Mitarbeiter wurden zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Im Rahmen der diesem Verfahren zugrunde liegenden Ermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft im Oktober 2019 bei den Verantwortlichen des Pflegedienstes 1,5 Millionen Euro Bargeld sowie Schmuck und Gold im Wert von über 200.000 Euro beschlagnahmt. Diese Werte fließen in das mittlerweile laufende Insolvenzverfahren ein. „Ob darüber hinaus weitere Gelder zur Schadenswiedergutmachung realisiert werden können, ist aktuell noch offen“, heißt es im AOK-Bericht. Der Versorgungsvertrag mit dem Pflegedienst wurde im Jahr 2020 gekündigt.

Pflegedienst 2

In einem weiteren Verfahren wurden gegen vier Hauptbeschuldigte eines Pflegedienstes nach 32 Verhandlungstagen vor dem Landgericht wegen banden- und gewerbsmäßigen Betruges in bis zu 200 Fällen die Urteile verkündet. Das Gericht verhängte sowohl Bewährungsstrafen von einem Jahr und zehn Monaten als auch Haftstrafen bis zu sechs Jahren. Hier lag der finanzielle Schaden laut Urteil bei 2,5 Millionen Euro; Kassen und Sozialhilfeträger gehen von bis zu neun Millionen Euro aus.

Zu den Vorwürfen zählten:

  • Abrechnung nicht erbrachter Leistungen gegenüber den Kranken-/Pflegekassen sowie Sozialhilfeträgern
  • Kickback-Zahlungen an Versicherte und deren Angehörige
  • Anstellung von Angehörigen, die ausschließlich die eigenen Familienangehörigen pflegen bzw. versorgen
  • die Anstellung von Personen für ein fingiertes Beschäftigungsverhältnis
  • Aufforderung von Mitarbeitenden, Leistungsnachweise abzuzeichnen, obwohl diese Leistungen nicht erbracht wurden und
  • Bedrohung bzw. Unter-Druck-Setzung von Mitarbeitern

Neben den Hauptbeschuldigten wurde gegen 15 Pflegedienstmitarbeiter, acht Patienten, zwei Angehörige und drei Ärzte ermittelt. Ein Großteil der Verfahren ist noch offen. Knapp sieben Millionen Euro Bargeld wurden bei Durchsuchungen im Oktober 2019 beschlagnahmt. Der Pflegedienst wurde 2019 aufgelöst, ein Jahr später die Insolvenz eröffnet. Letztlich konnten 6,5 Millionen Euro in das Insolvenzverfahren fließen, ein Großteil dieses Betrages ging an Kassen und Sozialhilfeträger.

Medikamente für Drogensüchtige

Im September 2020 wurde die AOK von der Polizei aufgrund eines Todesfalls gebeten, eine Aufstellung aller Verordnungen für den Verstorbenen zu erteilen. Im Zuge der Ermittlungen stellte sich heraus, dass die betroffene Ärztin „Wunschverordnungen für Drogensüchtige und Medikamentenabhängige ausgestellt hat“, also nicht nur für die verstorbene Person. Laut AOK-Bericht sei dies „teils aus Angst vor den Patienten, teils aus Mitleid“ geschehen.

Letztlich wurde das Ermittlungsverfahren gegen die Medizinerin nach § 170 Abs.2 StPO eingestellt. Man müsse die Menge der verordneten Medikamente im Kontext zum zusätzlichen Drogenkonsum sehen, sodass der Ärztin keine eindeutige Fehlverordnung vorgeworfen werden könne, hieß es seitens der Ermittler. Gegen die Einstellung des Verfahrens hat die AOK Beschwerde eingelegt.

Ärzte-Hopping

Seit Jahren betrieb ein AOK-Versicherter Ärzte-Hopping: Er suchte 24 Kassenärzte auf, um an große Mengen des Medikaments Pregabalin zu gelangen – ein Mittel zur Behandlung von Neuralgien, Epilepsie und generalisierten Angststörungen. Dass er wenige Tage zuvor von einem anderen Arzt bereits das Mittel verschrieben bekommen hatte, erzählte er nicht. Aufgrund der kassenärztlichen Verordnung musste der Patient nicht für die Kosten aufkommen und sich das Mittel auch nicht in der Drogenszene beschaffen.

In 95 Fällen erschlich sich der Patient Rezepte, welche er dann in diversen Apotheken einlöste. Der AOK entstand ein Schaden von 6.902,85 Euro. Der Mann wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt; die Einziehung des Schadensbetrages angeordnet.

Doch damit nicht genug. Erneut wurde der Mann auffällig, sodass die Staatsanwaltschaft im Mai 2021 ein weiteres Verfahren einleitete. Zwischen dem 5. Oktober 2020 und 18. Juni 2021 suchte er acht Kassenärzte in 23 Fällen auf. Diesmal betrug der Schaden für die AOK 1.230,72 Euro. Das Strafverfahren endete mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten und der Rückforderung des Schadensbetrages.

Teststreifen lösen Strafverfahren aus

Im Rahmen einer Apothekenabrechnungsprüfung im Juli 2017 fiel auf, dass einem Dialyse-Patienten durch mehrere Arztpraxen Teststreifen zur Bestimmung des Gerinnungswertes des Blutes verordnet worden waren. An einem einzigen Tag suchte er sogar fünf Arztpraxen auf, um an die Teststreifen zu gelangen. Durch diese Parallelversorgung standen ihm allein im Jahr 2016 über 2.000 Teststreifen zur Verfügung, obwohl er sich hätte nur einmal wöchentlich testen müssen. Bei den Ermittlungen kam später heraus, dass der Versicherte in einem Gerinnungszentrum sämtliche Messungen vornehmen ließ, sodass er auf keinerlei Teststreifen angewiesen war.

Letztlich wurde der Mann zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Ihm wurde auferlegt, den verursachten Schaden über drei Jahre in monatlichen Teilbeträgen von jeweils 300 Euro – insgesamt 10.800 Euro – zu erstatten. Nach Ablauf der Bewährungszeit wurde der Versicherte erneut auffällig, sodass er einen weiteren Betrag von 1.651,70 Euro zahlen musste.

Höher fiel der Schaden für Blutzuckerteststreifen aus, ganze 71.588,69 Euro. Eine Arztpraxis war auffällig geworden, weil sie bis zu 18 Rezepte für einzelne Versicherte taggleich ausstellte. Es stellte sich heraus, dass eine Mitarbeiterin Rezeptvordrucke ihres Arbeitgebers verwendete. Die so erlangten Teststreifen verkaufte sie auf Ebay. Das Gericht sah bei der Angeklagten eine „erhöhte kriminelle Energie“, heißt es im AOK-Bericht. Sie wurde zu einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Schon im Laufe des Verfahrens zeigte sich die Angestellte geständig und erklärte sich bereit, den Schaden zu ersetzen. Laut AOK ist die Schadensrückführung zwischenzeitlich abgeschlossen.

Maßnahmen gegen Betrug im Gesundheitswesen

Die Erkenntnisse des Bundeskriminalamtes über den bundesweit organisierten Abrechnungsbetrug haben laut AOK aufgezeigt, dass zur effektiven Verhinderung weitere Schritte erforderlich sind. Aus diesem Grund setzt sie sich dafür ein, eine „organisationsübergreifende Betrugspräventions-Datenbank für Kranken- und Pflegekassen aufzubauen“.

Um den Abrechnungsbetrug einzudämmen, sprach sich der AOK-Bundesverband weiter dafür aus, in allen Bundesländern spezielle Schwerpunktstaatsanwaltschaften einzuführen, die sich mit landesweiter Zuständigkeit ausschließlich mit Wirtschaftskriminalität im Gesundheitswesen befassen. Derzeit gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich.

In manchen Ländern gibt es bereits Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Fehlverhalten/Betrug im Gesundheitswesen wie in Bayern, Brandenburg, Thüringen, Hessen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. In Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt hingegen gibt es keine Spezialisierung, die der AOK-Bundesverband jedoch für dringend erforderlich hält.

Zentralstelle für Bayern eingerichtet

In Bayern wurden 2020 drei solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften nochmals gebündelt und eine Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen bei der Generalstaatsanwaltschaft in Nürnberg eingerichtet. Seither kümmern sich dort 14 Staatsanwälte um die Fälle. Unterstützt werden sie von medizinischem Fachpersonal und IT-Forensikern. Seit September 2020 wurden hier 445 Verfahren eingeleitet.

In Hessen bearbeitet die Zentralstelle für Medizinwirtschaftsstrafrecht bei der Staatsanwaltschaft Fulda die jeweiligen Verfahren. In Bremen gibt es im Bereich Wirtschaftskriminalität eine Sonderzuweisung für Betrug im Gesundheitswesen von Angehörigen der Heilberufe.

Zwischen AOK und Polizei gibt es einen ständigen Austausch, auch Vorträge und Schulungen, um die Kenntnisse der Ermittler mit Spezialwissen zu erweitern. Sobald ein Hinweis bei den Ermittlern eingeht, prüfen die Mitarbeiter in Datenbanken, ob der aufgenommene Fall ein Fehlverhalten darstellt und welche Möglichkeiten es gibt, um das Fehlverhalten zu beweisen. Dem folgen weitere Recherchen.

Am Ende wird geschaut, ob der Anfangsverdacht auf eine strafbare Handlung von geringfügiger Bedeutung für die gesetzliche Kranken- oder Pflegeversicherung ist oder einen höheren Stellenwert einnimmt, sodass eine Mitteilung an die zuständige Ermittlungsbehörde erfolgen muss.

Noch während des Verfahrens wird parallel geprüft, wie der bei der AOK entstandene Schaden durch Vertragspartner, Leistungserbringer oder Versicherten reguliert werden kann.

Hier kann der vollständige AOK-Fehlverhaltensbericht eingesehen werden.



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