39.000 Corona-Verfahren und Millionen Bußgelder: NRW-Ministerium bleibt vage

In einem Jubiläumsgrußwort zeigte sich der nordrhein-westfälische Justizminister Dr. Benjamin Limbach (Grüne) kürzlich voll des Lobes für seine Verwaltungsgerichte – speziell für ihre Leistungen während der Corona-Zeit. Sein Ministerium sieht zudem keine Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer juristischen Aufarbeitung.
Titelbild
Das Symbolbild zeigt die Außenfassade des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts in Münster.Foto: Guido Kirchner/dpa/dpa
Von 21. September 2024

Der nordrhein-westfälische Justizminister Dr. Benjamin Limbach (Grüne) hat die Verwaltungsgerichte seines Bundeslandes für ihre Arbeit während der Corona-Krise gelobt.

Sie seien „ein Eckpfeiler zur Sicherung unseres Rechtsstaates“ gewesen, als sie „in diesen für uns alle neuen und schwierigen Zeiten […] über eine Vielzahl von Klagen und Anträgen gegen staatliche Coronamaßnahmen entscheiden“ mussten, schrieb Limbach in einer Sonderausgabe der Fachzeitschrift „Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter“ (NWVBl). Es handelte sich um ein Grußwort zum Jubiläum „75 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit Nordrhein-Westfalen“. Limbach weiter:

Mit viel Fingerspitzengefühl und Augenmaß haben sie dabei in ihre Erwägungen eingestellt, dass die Maßnahmen häufig unter hohem Zeitdruck und auf einer unsicheren Tatsachen- und Erkenntnisgrundlage getroffen werden mussten. Dadurch haben sie den staatlichen Stellen die angesichts der wissenschaftlichen Unsicherheit notwendigen Einschätzungsspielräume belassen, als Hüter des Rechtsstaates aber auch stets die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger genau im Blick gehabt.“

Limbach war früher selbst Verwaltungsrichter gewesen, wie er zu Beginn seines Grußwortes in der August-Ausgabe der NWVBl auf Seite 3 (PDF) betonte.

Der nordrhein-westfälische Justizminister Dr. Benjamin Limbach (Archivbild). Foto: via dts Nachrichtenagentur

Keine konkreten Belege im Justizministerium

Die Epoch Times schickte Limbach einen schriftlichen Fragenkatalog. Wir wollten unter anderem wissen, auf welche Umstände und Urteile er seine Aussagen gestützt hatte, nach denen die Gerichte „stets die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger genau im Blick gehabt“ und „mit viel Fingerspitzengefühl und Augenmaß“ gehandelt hätten.

Einige Tage später erreichte uns eine E-Mail aus der Hand eines stellvertretenden Pressesprechers des NRW-Justizministeriums: „Die Äußerungen des Ministers beziehen sich auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in NRW insgesamt“, schrieb der Sprecher, ohne näher ins Detail zu gehen.

Fragen zur Anzahl der Straf-, Haft- oder Zahlungsbefehle, zur Summe des dadurch eingenommenen Geldes und zur Häufigkeit der Klagen konnte der stellvertretende Sprecher ebenso wenig beantworten wie die Frage nach der Zahl der Verfahrenseinstellungen, der Freisprüche oder Verurteilungen. „Valide Daten im Sinne der Fragestellung liegen dem Ministerium der Justiz nicht vor. Hierzu gibt es keine Justizstatistik“, erklärte der Sprecher.

Justizministerium: Keine Anhaltspunkte für juristische Aufarbeitung erkennbar

Das Justizministerium NRW sieht in der Aufarbeitungsfrage nach den Worten seines Sprechers zudem offenbar keinen eigenen Handlungsbedarf:

Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer juristischen Aufarbeitung der Corona-Krise können wir nicht erkennen. Die Frage einer politischen Aufarbeitung der Corona-Krise ist derzeit Gegenstand der Debatte auf Bundesebene und dürfte dort zu entscheiden sein.“

Straferlass setzt Gesetzgebungsverfahren voraus

Eine Meinung über Forderungen nach einer allgemeinen Amnestie für all jene Bürger, die aufgrund der Corona-Verordnungen zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt worden waren, gab der Sprecher nicht ab. Er wies lediglich darauf hin, dass ein „allgemeiner Straferlass“ auf Grundlage des Artikels 59 (2) der nordrhein-westfälischen Landesverfassung nur „auf Grund eines Gesetzes des Landtags ausgesprochen werden“ könne.

Auf die Bitte um Stellungnahme zur Frage, wie das Justizministerium zur Rückerstattung von Bußgeldern wegen Verstößen gegen die Corona-Maßnahmen steht, verwies der Sprecher zuständigkeitshalber an das Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS).

Kommunen für Bußgelder zuständig

Eine MAGS-Sprecherin erklärte auf schriftliche Nachfrage der Epoch Times, dass die „örtlichen Ordnungsbehörden“, also die Kommunen, „für die Durchführung der Ordnungswidrigkeiten- und Bußgeldverfahren im Zusammenhang mit den Regelungen der Coronaschutzverordnung und des Infektionsschutzgesetzes“ zuständig gewesen seien. Nach Meinung ihres Ministeriums gab es dort ebenfalls keinen Grund zur Beanstandung:

Das MAGS ist davon überzeugt, dass die Kommunen bei der Frage der Weiterverfolgung oder der Einstellung der entsprechenden Verfahren sehr sorgfältig, mit dem nötigen Augenmaß und in Anbetracht der Gesamtumstände des jeweiligen Einzelfalls vorgehen.“

Überhaupt lägen dem Gesundheitsministerium „aktuell keine Anhaltspunkte dafür vor, dass hier in Nordrhein-Westfalen eine Problematik in der Sache“ vorliege.

Über 39.000 Verfahren bis März 2023 eingeleitet – Millioneneinnahmen für die Städte

Zur Frage nach Zahlen verwies die Sprecherin des Gesundheitsministeriums auf ältere Stellungnahmen der NRW-Landesregierung aus dem Jahr 2023.

Demnach hatten in der Zeit von April 2020 bis zum 31. März 2023 die „Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen gegen 39.172 Beschuldigte Ermittlungs- bzw. Ordnungswidrigkeitsverfahren im Zusammenhang mit der Pandemie eingeleitet“, so die Landesregierung am 28. April 2023 auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion (LT-Drucksache 18/4212, PDF).

Die Kreise und kreisfreien Städte in NRW hätten Bußgelder wegen Verstößen gegen die Coronaschutzverordnung (CoronaSchVO) in Höhe von mindestens 23 Millionen Euro eingenommen, wobei einige Städte mangels Statistik ihre Einnahmen nicht nennen konnten.

„Volle Rückendeckung“ für die Kommunen „für eine konsequente und nachhaltige Ahndung“ von Verstößen

Auf eine weitere Kleine Anfrage des AfD-Abgeordneten Markus Wagner zur Bereitschaft des Landes NRW, Bußgelder nach slowenischem Vorbild zurückzuerstatten, hatte die Landesregierung am 15. August 2023 (LT-Drucksache 18/5385, PDF) geantwortet:

Wie bereits in der Vorbemerkung ausgeführt, hält die Landesregierung die Ahndung von Verstößen gegen die Regelungen der Coronaschutzverordnung auch rückblickend betrachtet für ein wichtiges Instrument im Rahmen der Pandemiebekämpfung. Die Landesregierung sieht daher keinen Anlass, rechtmäßig festgesetzte Bußgelder zurückzuzahlen und lehnt eine solche Vorgehensweise im Hinblick auf die aktuelle und künftige Akzeptanz verbindlicher staatlicher Verhaltensnormen ausdrücklich ab.“

Die für Bußgeldangelegenheiten zuständigen Kommunen könnten sich deshalb „auf eine volle Rückendeckung der Landesregierung für eine konsequente und nachhaltige Ahndung festgestellter Rechtsverstöße verlassen“, hieß es in der Antwort der Regierung Wüst.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dagegen hatte am 18. September 2024 bekannt gegeben, dass er sämtliche Corona-Bußgeldverfahren einstellen lassen werde: „Wir wollen jetzt Frieden haben.“

Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen regiert seit dem 28. Juni 2022 eine schwarz-grüne Koalition unter Leitung des Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU). Beide Fraktionen verfügen zusammen über 115 der insgesamt 195 Sitze im Düsseldorfer Landtag.

Um einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, bedarf es laut Artikel 41 der Landesverfassung eines Fünftels der gesetzlichen Zahl der Landtagsmitglieder, also 39 Stimmen. Als einzige Oppositionskraft käme dafür die SPD-Fraktion mit 56 Sitzen infrage. Die AfD und die FDP (je 12 Sitze) hätten das entsprechende Antragsrecht mangels Personalstärke nicht einmal dann, wenn sie dafür zusammenarbeiten würden.

SPD-Fraktion NRW: Keine Entscheidung über U-Ausschuss-Antrag

Die SPD-Fraktion ist sich nach den Worten ihres Abgeordneten Rodion Bakum allerdings bisher nicht sicher, ob sie eines Tages einen U-Ausschuss Corona beantragen wird. Bakum hatte innerhalb einer bereits eingerichteten Enquetekommission II („Krisen- und Notfallmanagement – durch die Lehren der Vergangenheit die Zukunft sicher gestalten“) den Posten des Sprechers der SPD-Landtagsfraktion übernommen.

„Grundsätzlich stehen uns als größte Oppositionsfraktion mit 56 Abgeordneten alle Oppositionsrechte offen“, bestätigte Bakum auf Anfrage der Epoch Times. Um aber einem „möglichst breit getragenen Abschlussbericht“ der Enquetekommission „nicht vorzugreifen“, halte sich seine Fraktion „bei konkreten Forderungen“ zurück. Denn man stecke noch „mitten im Beratungsprozess“.

Bakum verwies auf das bereits im März 2021 „mit breiter Mehrheit“ eingesetzte „Parlamentarische Begleitgremium COVID-19-Pandemie“ (PDF). In diesem Unterausschuss seien „Expertinnen und Experten zu aktuellen Fragestellungen rund um Corona befragt und in die Erarbeitung von Empfehlungen für das politische Handeln miteinbezogen“ worden. Dieses Vorgehen halte seine Fraktion „weiterhin für den richtigen Weg“. Bakum weiter:

Rückblickend müssen sicherlich einige Maßnahmen kritisch bewertet werden, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach das am Beispiel von Schulschließungen auch bereits getan hat. Dabei muss aber vor allem die wissenschaftliche Bewertung ausschlaggebend sein.“

Innerhalb der aktuellen Enquetekommission „Krisen- und Notfallmanagement“ werde sich die SPD-Fraktion „weiterhin dafür einsetzen, die richtigen und wissenschaftlich fundierten Schlüsse aus der Corona-Pandemie zu ziehen und zu schauen, wie wir in Zukunft besser mit einer vergleichbaren Krisensituation umgehen können“, so Bakum. Zudem gelte es, „unser Gesundheitssystem weiter zu stärken und die Lücken, die Corona offengelegt hat, zu schließen.“

Fragen zu einer allgemeinen Amnestie für verurteilte Maßnahmengegner und zur Bußgeldrückerstattung ließ Bakum unbeantwortet.

Der Bundestag hatte einen Corona-Untersuchungsausschuss bereits im April 2023 abgelehnt.



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