„Der Mittelstand steht vor existenziellen Problemen“ – Brandbrief an die Länderchefs
Der Druck auf die Bundesregierung wegen der desolaten Wirtschaftslage scheint sich immer weiter zu erhöhen – und eine für alle gangbare Lösung ist nicht in Sicht. Am Sonntag, 18. Februar, veröffentlichten 18 Mittelstandsverbände einen gemeinsamen Brandbrief, um die Talfahrt zu stoppen. Die „Tagesschau“ berichtete als erstes Medium darüber.
Die Verbände sehen aktuell vor allem die „Regierungschefinnen und Regierungschefs“ der Länder in der Pflicht, insbesondere jene mit Unionsparteibuch. Als rettenden Strohhalm klammern sich die Mittelständler an das noch immer nicht in Kraft getretene „Wachstumschancengesetz“:
Mit dem Wachstumschancengesetz kann die Politik ein erstes Zeichen der Zuversicht für eine beginnende Entlastungs- und Investitionsoffensive im Mittelstand setzen. Alle politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sollten auf eine schnellstmögliche Verabschiedung des Gesetzes hinwirken.“
„Es ist wirklich eine Minute vor zwölf“
Christoph Ahlhaus (CDU), Geschäftsführer des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft (BVMW) und zugleich Hauptunterzeichner des Appells (PDF-Datei), bekräftigte seinen Standpunkt laut „Tagesschau“ mit den Worten:
Der Mittelstand steht vor existenziellen Problemen. Es eilt, es ist wirklich eine Minute vor zwölf. Und wir erleben politische Spielchen. Die Union blockiert das Wachstumschancengesetz, obwohl es um über drei Milliarden Entlastung geht.“
Er sehe keine Zeit mehr für „parteitaktische Spielchen“ oder „Streitereien innerhalb der Ampel-Bundesregierung“, schrieb Ahlhaus. „Alle demokratischen Kräfte in unserem Land“ seien nun aufgerufen, die „Zukunftsperspektive“ zu sichern – ganz gleich „ob in Regierung oder Opposition, im Bund oder in den Ländern“.
Angst um das „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“
Ahlhaus war laut „Tagesschau“ einst „selbst Regierungschef eines Bundeslandes“. 2010 und 2011 habe das CDU-Mitglied die Geschicke der Freien und Hansestadt Hamburg als Erster Bürgermeister geleitet. Heute steht für ihn „nichts weniger auf dem Spiel als die Rettung des deutschen Mittelstands“, so der 54-Jährige. Dieser Mittelstand bilde immerhin „99 Prozent aller Unternehmen und damit das Rückgrat der deutschen Wirtschaft“, wie Ahlhaus zu bedenken gab. Jetzt bräuchten „die mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer eine Zukunftsperspektive für den Standort ‚Made in Germany‘“.
In einer Art Kurz-Analyse verortete Ahlhaus die Probleme ursächlich in politischen Entscheidungen, ohne jedoch detailliert auf die Verursacher einzugehen oder einzelne Parteien anzugreifen:
Die wirtschaftliche Fehlentwicklung ist hausgemacht und auf eine Vielzahl an strukturellen Defiziten zurückzuführen: von hohen Energiepreisen insbesondere im industriellen Mittelstand, einem sich verschärfenden Arbeitskräftemangel in allen Branchen, den eklatanten Defiziten bei der Digitalisierung von Staat und Verwaltung bis hin zu Rekordbelastungen bei Steuern, Abgaben und Bürokratieanforderungen an kleine und mittlere Betriebe.“
Vertrauen zerstört?
Alles Kritikpunkte also, bei denen nicht nur die Länder, sondern der Bund oder die EU die politische Verantwortung tragen. Ahlhaus’ Brief schließt dennoch wieder mit einem ausschließlich an die Landesregierungen adressierten Appell, „die Blockade des Wachstumschancengesetzes“ im Bundesrat „sofort aufzugeben“, um „zu einer Entlastung des Mittelstands beizutragen“. Nur so könne „das Vertrauen in Sie als politische Entscheidungsträger wieder gestärkt werden“.
Auch die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) forderte von Bund und Ländern jüngst das Inkraftsetzen des Wachstumschancengesetzes, eine „Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik“ und eine „Reformagenda“ für die Zeit ab 2030.
Habeck vs. Lindner: Gemeinsame Analyse, getrennte Lösungsideen
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte in der vergangenen Woche zugegeben, dass es „dramatisch schlecht“ um die deutsche Wirtschaft stehe. Alle drei Säulen seien „uns weggebrochen“, so Habeck beim Bühnentalk „RND vor Ort“ des „Redaktionsnetzwerks Deutschland“. Am Rande der Leipziger Messe konstatierte er, man könne „so nicht weitermachen“ – und setzte sich erneut für ein schuldenfinanziertes „Sondervermögen“ ein, also noch höhere Milliardenschulden zulasten künftiger Generationen abseits der Schuldenbremse des Grundgesetzes.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt das allerdings strikt ab. Ihm schwebt stattdessen ein großes „Dynamisierungspaket“ vor, das „Arbeitsmarkt, Bürokratie, Energie und Steuern“ und „Investitionen in Infrastruktur […] auf Rekordniveau“ umfassen soll. Die Finanzierung ist unklar. All das bedeutet weiteres Streitpotenzial innerhalb der Ampelparteien und selbstverständlich auch bei der Opposition, bei Wirtschaftsvertretern, Arbeitnehmern und Steuerzahlern allgemein.
Praktisch zeitgleich mit Habecks Bekenntnis hatte die Bundesregierung ihre Wachstumserwartung für 2024 am Valentinstag von ursprünglich 1,3 auf 0,2 Prozent korrigiert. Die EU-Kommission sieht laut „Welt“ ein Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent. Auch damit wäre Deutschland „Schlusslicht in der Eurozone“.
Union beharrt auf Aus für Agrardieselpläne
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte am Morgen des 19. Februar 2024 im „Deutschlandfunk“ an, seine Blockade gegen das Wachstumschancengesetz aufzugeben, falls die Bundesregierung ihrerseits bereit sei, doch noch auf die schrittweise Erhöhung der Agrardiesel-Steuern zu verzichten. Er bezweifele aber, dass das Gesetz zur Wirtschaftsförderung „eine ernsthafte große Verbesserung“ bringen werde. Es handele sich nur um „ein Gesetzchen“.
CDU-Chef Friedrich Merz vertrat im „Bericht aus Berlin“ im „Ersten“ eine ähnliche Meinung zum Streitpunkt Agrardiesel. Außerdem warte man immer noch auf ein Papier der Bundesregierung. Im Übrigen seien es „nicht nur unionsgeführte, sondern auch SPD-geführte“ Länder, die das Wachstumschancengesetz ablehnten. Die Ampel solle lieber „mit einer Agenda 2040 antworten und sich nicht weiter im Klein-Klein verstricken“.
Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatten dem Kanzler bereits am 9. Februar 2024 ein Dutzend „Sofortmaßnahmen“ zur Rettung der deutschen Wirtschaft vorgeschlagen. Sie sehen „Wohlstandsverluste in einem bisher nicht gekannten Ausmaß“.
Jens Spahn, der Vize-Fraktionschef der Union im Deutschen Bundestag, hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) vor dem Wochenende im „Tagesspiegel“ aufgefordert, einen „Wirtschaftsgipfel“ einzuberufen, ohne einen exakten Zeitpunkt vorzuschlagen.
Özdemir offen für Bürgergeldreform: „Das muss man diskutieren“
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) hatte Anfang Januar, wenige Tage vor Beginn der Bauernproteste, im Kabinett eine Abschwächung der ursprünglichen Pläne erreicht: Die Aufhebung der KfZ-Steuerbefreiung für land- und wirtschaftliche Fahrzeuge wurde komplett gestrichen, die „Agrardieselbeihilfe“ wird nicht auf einen Schlag, sondern schrittweise bis 2026 abgeschafft (Video auf „YouTube“).
Am Vorabend von Söders aktuellem Angebot schlug sich Özdemir im „Bericht aus Berlin“ auf die Seite der Brandbriefverfasser aus dem Mittelstand. Er appellierte an die Union, das Wachstumschancengesetz im Bundesrat passieren zu lassen. Für einen Vorschlag seines Parteikollegen Danyal Bayaz, dem Landesagrarminister von Baden-Württemberg, das Bürgergeld zu reformieren und mehr Arbeitsanreize zu schaffen, zeigte sich Özdemir offen: „Darüber kann man diskutieren, muss man diskutieren, […] das muss man prüfen“. Die Frage liege aber nicht in seiner Zuständigkeit.
Vermittlungsausschuss sucht Kompromiss für Wachstumschancengesetz – Stichtag 21. Februar
Das „Gesetz zur Stärkung von Wachstumschancen, Investitionen und Innovation sowie Steuervereinfachung und Steuerfairness“, kurz: Wachstumschancengesetz (PDF-Datei), war Anfang Oktober 2023 auf den Weg gebracht worden – als Teil eines Zehn-Punkte-Programms der Ampel „für den Wirtschaftsstandort Deutschland“ (PDF-Datei). Das Gesetz sieht nach Angaben des Bundestags vor, „die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland“ in den Jahren bis 2028 zu stärken: „So sollen unter anderem Transformationsprämien Investitionen fördern und zusätzliche Abschreibungsmöglichkeiten den Mietwohnungsbau beflügeln“, heißt es auf der Website.
Am 17. November 2023 war das Gesetz in dritter Lesung ausschließlich mit den Stimmen der Ampelfraktionen vom Bundestag verabschiedet worden. Im Bundesrat aber verweigerten die Länder am 24. November 2023 ihre Zustimmung: Die Landeshaushalte hätten keinen Spielraum für weitere Belastungen mehr. Sie hätten nach den Vorstellungen von Finanzminister Lindner ein Drittel der Einnahmeausfälle tragen müssen, die durch die geplanten Möglichkeiten von Steuerabschreibungen für privatwirtschaftliche Investitionen entstehen würden. Ein weiteres Drittel der Ausfälle sollten die Kommunen, den Rest der Bund tragen. Außerdem sähen die Länder „aufgrund der vielen kurzfristigen Änderungen im Bundestagsverfahren“ einen „Überarbeitungsbedarf“, heißt es auf der Website des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat, bei dem die aktuelle Gesetzesfassung liegt. Nach Informationen der „Welt“ soll „das Volumen der Entlastungen […] nun von geplanten sieben Milliarden Euro jährlich auf drei Milliarden Euro sinken“.
Der Ausschuss wird sich am Mittwochabend, 21. Februar 2024, erneut damit befassen. Dann soll es auch um das Krankenhaustransparenzgesetz, das Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz, das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten und das Gesetz zur Umsetzung einer EU-Richtlinie im Bereich der Kfz-Versicherung gehen.
Mit Informationen aus Agenturen
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