Corona-Aufarbeitung: Bürger sollen mitreden – aber nur in beratender Funktion

Die Ampelfraktionen im Bundestag wollen die Aufarbeitung der Corona-Krise offenbar auch in die Hände der Bürger legen: Neben einer Enquete-Kommission soll auch ein Bürgerrat eingerichtet werden. Beide hätten nur eine beratende Funktion für zukünftige Krisen.
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Das Symbolbild zeigt eine belebte Fußgängerzone in Deutschland. Bei der Einberufung eines Bürgerrats durch das Parlament wird das Losverfahren angewendet.Foto: iStock
Von 19. April 2024

Nach den Vorstellungen von Katja Mast, der ersten Parlamentarischen Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, sollte der Bundestag auch einen Bürgerrat einberufen, um die Aufarbeitung der Corona-Krise voranzutreiben.

„Wir schlagen als ersten Schritt einen Bürgerrat vor, in dem zufällig ausgewählte Menschen ihre Erlebnisse schildern und Empfehlungen für die Zukunft aussprechen können“, erklärte Mast gegenüber der Zeitung „Tagesspiegel“.

„Debatten ohne Schaum vor dem Mund“

Als zweiter Schritt schwebt Mast offenbar eine seit Wochen diskutierte „Enquete-Kommission“ vor. Beide Gremien könnten dann gemeinsam dafür sorgen, „diese Debatten ohne Schaum vor dem Mund zu führen“, sagte Mast nach Informationen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), die sich auf den „Tagesspiegel“ (Bezahlschranke) beruft. Es gehe darum, „die Gräben der Pandemie“ zu überwinden. Nach Informationen der „Ärztezeitung“ hatte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich schon zu Beginn der Woche für einen Bürgerrat nebst Enquete-Kommission plädiert.

Das Rentenpaket setze den Koalitionsvertrag eins zu eins um, so Katja Mast.

Katja Mast bei einer früheren Rede im Bundestag. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Um den genauen Weg festzulegen, soll es im Laufe der nächsten Woche ein Treffen der Fraktionsspitzen geben. In den Reihen der Grünen und der FDP scheint Masts Vorschlag gut angekommen zu sein. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass es nicht um die Suche nach Schuldigen, sondern vielmehr um den Blick nach vorn gehen muss. Nur über den genauen Weg herrscht offenbar noch keine Klarheit.

FDP: Enquete-Kommission als „Gold-Standard“

So hält FDP-Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus, zugleich Parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion, eine Enquete-Kommission für den „Gold-Standard, um hochkomplexe juristische und wissenschaftliche Fragen durch unabhängige Experten aufzuarbeiten“. Mit einem zusätzlichen Bürgerrat aber könne Aschenberg-Dugnus der FAZ zufolge ebenfalls leben.

Anders ihr Parteikollege Prof. Dr. Andrew Ullmann, der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion: Auf Anfrage der „Ärztezeitung“ erklärte der Mediziner bereits vor zwei Tagen: „Ich sehe keinen Vorteil in einem Bürgerrat mit einer anschließenden Kommission gegenüber einer Enquete-Kommission“. Er räumte ein, dass es ein „immense[s] öffentliche[s] Bedürfnis nach einer wissenschaftlich-politischen Aufarbeitung“ gebe. Auf jeden Fall aber müsse am Ende „die Bundespolitik auch bei der Aufarbeitung und Formulierung von Schlussfolgerungen federführend“ sein, so Ullmann.

Grüne grundsätzlich einverstanden

Irene Mihalic, die erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, zeigte sich laut FAZ allerdings offen für Masts Vorschlag, sowohl einen Bürgerrat als auch eine Enquete-Kommission einzurichten: „Für uns Grüne ist entscheidend, dass wir schnell und möglichst im Konsens mit den anderen demokratischen Fraktionen klären, wie wir die Corona-Zeit aufarbeiten können.“

Auch die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt hatte sich Agenturangaben zufolge erst kürzlich für eine Kombination von Bürgerrat und Kommission ausgesprochen.

Räte per Losverfahren zu bestimmen

Bürgerräte bestehen nach Angaben des Onlineportals „Achgut.com“ aus mindestens 30, maximal aber 200 Personen. Das Parlament könne sie per Losverfahren auswählen und mit bestimmten Aufgaben betrauen. Dazu gehöre in der Regel die Anhörung von Fachleuten. Am Ende seiner Untersuchungen solle ein „Bürgergutachten“ verfasst und der Politik vorgelegt werden. Das Papier diene allerdings lediglich der Beratung und besitze keine bindende Wirkung.

Bislang hatten die Parlamentarier des Bundestags eigenen Angaben zufolge einen solchen Bürgerrat erst ein Mal einberufen. Das geschah im Mai 2023. Zwischen September 2023 und Januar 2024 sollte das Gremium Empfehlungen zum Thema Ernährung erarbeiten. Im Februar 2024 legte der Bürgerrat sein Gutachten vor, in dem unter anderem Gratis-Essen in Schulen und Kitas gefordert wurde (PDF-Datei). Mitte März 2024 wurden die Vorschläge im Bundestag debattiert.

Enquete-Kommission: Empfehlungen für Zukunft

Eine Enquete-Kommission ist ein parlamentarisches Gremium, das temporär eingesetzt wird, um komplexe Sachverhalte zu untersuchen und Empfehlungen für politische Maßnahmen zu erarbeiten. Im deutschen Kontext wird sie meist von Landtagen oder vom Bundestag eingesetzt. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist er sogar dazu verpflichtet.

Mitglied in einer Enquete-Kommission können Abgeordnete sowie externe Experten sein. Ziel ist es, durch das Sammeln von Informationen und die Erarbeitung von Empfehlungen die Grundlagen für Entscheidungen des Parlaments und der Regierung zu schaffen. Ihr Nutzen zielt darauf ab, zukunftsorientierte Lösungen und Handlungsansätze zu entwickeln, ohne dabei primär Verantwortlichkeiten für vergangene Ereignisse zuzuweisen oder Konsequenzen für bestimmte Handlungen oder Entscheidungen zu fordern.

Union skeptisch

Aus den Reihen der Union ist nach Angaben von „Hasepost“ noch keine Reaktion auf den Vorschlag Masts bekannt. Bislang aber stehe die Fraktion einer Corona-Aufarbeitung grundsätzlich skeptisch gegenüber. Neben dem früheren NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet hatte sich laut „Merkur“ etwa die CDU-Gesundheitspolitikerin Simone Borchardt für eine Enquete-Kommission starkgemacht.

Die am 20. März 2024 vom „Multipolar-Magazin“ veröffentlichen, in weiten Teilen geschwärzten „RKI-Files“ hatten etliche Unterschiede zwischen der Lage-Einschätzung des wissenschaftlichen RKI-Krisenstabs und den Maßnahmenverordnungen der Bundes- und Landesregierungen zutage gefördert. Sie betrafen den Zeitraum von Mitte Januar 2020 bis April 2021. Damals waren mit Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn zwei Spitzenpolitiker der CDU für den Kurs der deutschen Corona-Politik verantwortlich.

Demnächst mehr Enthüllungen?

Ende April könnte eine „weitestgehend ungeschwärzte“ Fassung der RKI-Protokolle für noch mehr Klarheit sorgen. Der amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte ihre Veröffentlichung am 28. März 2024 angekündigt. Weiterhin versprach er „maximale Transparenz“.

Die Entscheidung über die Umsetzung einer Aufarbeitung wolle er dem Bundestag überlassen. Zudem gebe es bereits eine neue „Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern“ für „Gesundheit und Resilienz“, die beim Bundeskanzleramt aufgebaut worden sei, betonte Lauterbach. Sie werde die „Lehren aus der Vergangenheit“ ziehen.

AfD favorisiert U-Ausschuss

Die zweitgrößte Oppositionspartei AfD drängt schon seit Jahren auf Offenlegung und Aufarbeitung der Daten- und Entscheidungsgrundlagen für die aus ihrer Sicht überzogenen Corona-Maßnahmen, die die deutsche Gesellschaft bis heute vor eine schwere Zerreißprobe stellt. Martin Sichert, der gesundheitspolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Bundestag, forderte bereits mehrfach einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.

Ein solcher Ausschuss wird eingesetzt, wenn es um mutmaßliche Verstöße gegen Gesetze oder um andere Missstände in der Regierungsarbeit geht, die auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnten. In der Regel verlaufen aber auch sie wegen der Immunität der Abgeordneten im Sande.

Ganz egal also, ob nun ein Bürgerrat, eine Enquete-Kommission, ein Expertenrat oder ein Untersuchungsausschuss mit einer Aufarbeitung beauftragt wird: Juristische Konsequenzen für etwaige Versäumnisse oder Rechtsübertretungen politisch Verantwortlicher sind erfahrungsgemäß nicht zu erwarten.

Habeck plädierte bereits Ostern 2020 für einen Corona-Bürgerrat

Die Idee eines Bürgerrats zur Aufarbeitung der Corona-Krise ist übrigens nicht neu. Schon an Ostern 2020 hatte sich der damalige Co-Parteivorsitzende der Grünen, Robert Habeck, nach Informationen von „Bürgerrat.de“ für ein solches Gremium ausgesprochen. Seine damalige Erklärung als Oppositioneller klang beinahe so wie die aktuellen Worte von Katja Mast:

Es wäre ein großes Zeichen der Bundesregierung, nach der Krise Zukunftsbündnisse, Räte zu gründen, in denen zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger das Erlebte diskutieren, über Konsequenzen für die Zeit danach beraten und gesellschaftliche Schlüsse daraus ziehen. Holt das Wissen, die Erfahrung, die Ideen der Leute ab!“

Inzwischen zum Bundeswirtschaftsminister ernannt, findet sich auf der Website von Habeck, der Referenz von „Buergerrat.de“, allerdings nichts mehr davon.



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