Zusammenhang von Migration und Antisemitismus in Europa

Nach den Terroranschlägen der Hamas und der prompten militärischen Reaktion Israels erleben Deutschland und Europa auf ihren Straßen die Explosion eines zugewanderten Antisemitismus vorwiegend arabischer Herkunft und zunehmend auch aus den türkischen Communitys ihrer Städte.
Titelbild
Anhänger Palästinas bei einer Demonstration.Foto: Spencer Platt/Getty Images
Von 9. November 2023

Sucht man nach den verbindenden Merkmalen derjenigen, die ihren Antisemitismus dieser Tage offen auf deutschen und europäischen Straßen kundtun, ist es ihre Religion und ein solidarischer Bezug zu ihren „Glaubensbrüdern“ in Palästina/Gaza.

Während die deutsche Debatte rund um die Frage, ob man Israel kritisieren darf, ohne gleich Antisemit zu sein, schon jahrzehntealt ist, ist die arabisch-muslimische Israel-Kritik komplexer.

Der britische Antisemitismusforscher David Ranan ging 2018 für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) der Frage nach, ob der muslimische Antisemitismus vor allem durch den Palästina-Konflikt gespeist sei.

Ranan führte in Deutschland und Großbritannien Interviews mit 70 jungen Muslimen. Sein Ergebnis damals: Der Judenhass unter vielen Muslimen geht auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zurück und ist somit, im Gegensatz zum Antisemitismus im Abendland, ein junges Phänomen. „Sie sagen Jude“, schreibt Ranan, „und meinen Israeli.“

Seine muslimischen Gesprächspartner hätten ständig die Begriffe Jude, Zionist und Israeli durcheinandergebracht.

Ranan fragte 2018: „Ist also muslimischer Antisemitismus eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?“ Diese Gefahr sah Ranan damals nicht. Zwar dürften kriminelle Handlungen, etwa Übergriffe auf Juden oder das Verbrennen einer israelischen Flagge, nicht geduldet werden, aber unehrlich sei die Behauptung, dass antiisraelische Äußerungen, deren Quelle offensichtlich der territoriale Streit um Palästina sei, antijüdisch und damit antisemitisch seien.

David Ranan hat sich vor wenigen Tagen in einem Artikel im „Freitag“ zur Rolle Deutschlands im Gaza-Israel-Konflikt geäußert:

„Die ‚Nie wieder‘-Phrase wird von deutschen politischen und medialen Eliten einseitig und damit in einer moralisch inhaltsleeren Weise interpretiert. Deutschland muss es verinnerlichen, dass es seine Hände nicht von seiner Schuld für den Holocaust reinwaschen kann, indem es zum Mit-Ermöglicher des palästinensischen Leids wird.“

Es kamen überwiegend Muslime

Die bald zwei Millionen Zuwanderer, die nach 2015 nach Deutschland kamen, sind überwiegend Muslime. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und dem Irak (hier ohne die ukrainischen Flüchtlinge, die nicht dem Asylverfahren unterworfen sind).

Der deutsche Antisemitismusforscher Günther Jikeli ist Mitbegründer des International Institute for Education and Research on Antisemitism (IIBSA) in London und Berlin. Er hat sich mit antisemitischen Vorstellungen innerhalb der Zuwanderungswelle (ab 2015) nach Europa beschäftigt. Jikeli differenziert zwischen „arabisch-nationalistischen, antiimperialistischen, islamistischen oder aus allgemein weltverschwörungstheoretischen ideologischen Versatzstücken gespeistem Antisemitismus.“

Ein Fazit seiner Untersuchungen lautete:

„Es ist unstrittig, dass antisemitische Vorstellungen in Syrien, Irak und anderen Ländern des Nahen Ostens sowie Nordafrika (MENA) weit verbreitet sind. Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung antisemitischen Statements zustimmt. In vielen dieser Länder geben über 90 Prozent an, eine negative Meinung über Juden zu haben.“

Die aktuellen Ereignisse nach dem Terrorangriff der Hamas gegen Israel und die militärische Antwort der Israelis auf dieses Verbrechen führte in vielen europäischen Großstädten zu antisemitischen Ausschreitungen auf Pro-Palästina-Demonstrationen. Betroffen waren hier vielfach die west- und südeuropäischen Mitgliedstaaten. Eben jene, die eine große Anzahl von muslimischen Zuwanderern aufgenommen haben.

Um dem Phänomen eines muslimischen Antisemitismus in Europa nachzugehen, muss man wissen, wie viele Muslime nach 2015 nach Europa gekommen sind. Nimmt man hier die Syrer als größte Gruppe, ergibt sich folgendes Bild:

„Mehr als 1,2 Millionen Syrer haben in der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt (Stand: Ende 2021). In Deutschland leben rund 818.000 von ihnen. Somit sind fast 70 Prozent der Syrer, die in die EU gekommen sind, in Deutschland geblieben. Und etwa ein Viertel Millionen Afghanen sind aktuell als Asylbewerber oder Asylanten in Deutschland registriert.

Der Psychologe und Autor Ahmad Mansour ist Israeli arabisch-palästinensischer Herkunft und beschäftigt sich schon seit Jahren mit „importiertem Antisemitismus“. Für die Zeitung des Deutschen Kulturrats schrieb er dazu:

„Bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland sind vielfältige antisemitische Stereotypen zu finden. So zirkulieren seit einigen Jahren bei Jugendlichen verstärkt Verschwörungstheorien, die sich um die Herrschaft der Juden in der Finanz- und Weltpolitik drehen. Juden seien Kriegstreiber, hätten den 11. September geplant und durchgeführt, seien verantwortlich für die Corona­pandemie und den Ukraine-Krieg, Juden seien ausgefuchst, geldgierig und beherrschten die Medien.“

Ein Hinweis von Mansour ist aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen, weil er aufzeigt, dass muslimischer Antisemitismus keine Erblast sein muss, weitergereicht von den Großeltern über die Eltern ans Kind. Und zum anderen, weil er einen Ausblick gibt auf europäische Vernetzung eines neuen Antisemitismus.

Mantra der Rap Kultur: „Free Palestine“

Die Rede ist hier von der arabisch geprägten Rap- und Hip-Hop-Szene, die antisemitische Stereotype mal unterschwellig, mal sehr deutlich verbreitet. Viele Jugendliche haben von „Free Palestine“ überhaupt erst über ihre Rap-Idole gehört. Ebenfalls interessant: Dieses Phänomen ist keineswegs ein rein muslimisches. Die Fan-Base der Musiker überschreitet hier mühelos jede rein muslimische Community.

„Deutschlandfunk Kultur“ schrieb 2019 über die Pariser Banlieues, Musiker aus diesem Milieu seien die Inspirationsquelle vieler deutscher Musiker dieses Genres: „Die großen Vorbilder deutscher Rapper kommen nicht nur aus den USA, sondern auch aus Frankreich.“

Die Banlieues sind Ghettos mit mehrheitlich muslimisch-arabischen Migranten bzw. bewohnt von Franzosen mit diesem Hintergrund. Vor zwei Jahren titelte der österreichische „Standard“ darüber, „[w]ie Frankreichs jüdische Bevölkerung aus den Banlieues vertrieben wird“. Das Intro fasst zusammen, worum es geht: „In den Pariser Banlieues grassiert der Antisemitismus. Tausende jüdische Familien ziehen weg, um den immer gewalttätigeren Attacken zu entgehen.“

Was in der aktuellen Debatte um anti-israelische und/bzw. anti-jüdische Demonstrationen unterrepräsentiert ist: Das Problem existiert nicht erst seit gestern. Und auch nicht erst, seit der millionenfachen Massenzuwanderung arabischer Muslime in die EU. Die „Zeit“ titelte bereits 2013: „Juden fühlen sich in Europa zunehmend bedroht“. Das heißt allerdings im Umkehrschluss nicht, dass es kein muslimischer Antisemitismus ist. Muslime leben nicht erst seit 2015 in Europa, die Communitys wachsen nur immer schneller.

Besagter Artikel aus der „Zeit“ zitiert hier die „Jüdische Allgemeine“, die ein Interview mit Morten Kjaerum führte. Er ist Direktor der EU-Agentur für Grundrechte, der darauf aufmerksam machte, dass viele Juden in Ländern mit einer großen muslimischen Minderheit mehr Angst um ihre Sicherheit hätten, sobald sich der Nahostkonflikt verschärft.

Mehrheit der Juden in großer Sorge

In einer Umfrage von Kjaerum gaben 73 Prozent der teilnehmenden französischen Juden an, der Nahostkonflikt habe große Auswirkungen auf ihr Sicherheitsgefühl. In Belgien etwa seien es 69 Prozent und in Deutschland noch 28 Prozent.

Eine Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ermittelte 2019, dass zu den häufigsten antisemitischen Äußerungen Sätze wie der folgende zählen: „Die Israelis verhalten sich gegenüber den Palästinensern wie Nazis“ (51 Prozent).

Die europäische Agentur hatte Juden in ganz Europa befragt, wie sicher oder unsicher sie sich im Land fühlen. Die Ergebnisse der Befragung sind für alle EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen katastrophal. Denn ein „sehr großes“ und ein „ziemlich großes“ Problem sehen hier im Gesamtdurchschnitt etwa 85 Prozent. Dänemark und Italien schneiden noch mit am besten ab, hier sehen 42 bzw. 25 Prozent der Befragten „kein sehr großes Problem“. Aber auch hier ist die Mehrheit der Juden in großer Sorge.

In der Zusammenfassung der Ergebnisse der EU-Agentur heißt es:

„Auf die Frage nach den Tätermerkmalen beim schwerwiegendsten Vorfall antisemitischer Belästigung in den fünf Jahren vor der Erhebung gaben die Befragten – soweit möglich und aufgrund ihrer Wahrnehmung – in 31 % der Fälle an, dass die Täterin oder der Täter jemand war, die oder den sie nicht kannten, in 30 % der Fälle als jemand mit extremistisch muslimischer Orientierung und in 21 % der Fälle als jemand mit linksgerichteter politischer Orientierung.“

Das Fazit der Erhebung lautet hier: „Die […] Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die Befragten dermaßen viele antisemitische Beschimpfungen erfahren, dass ihnen einige der Vorfälle schon trivial erscheinen.“



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