Wissing (FDP): Schwarz-Grün „autoritär-missionarisch“ – CDU hat „bürgerliches Lager aufgegeben“
Der Generalsekretär der FDP, Volker Wissing, hat in einem ausführlichen Gespräch mit der NZZ den Unionsparteien vorgeworfen, den inneren Kompass als bürgerliche Parteien verloren zu haben. Nicht nur Angela Merkel habe die CDU zu einer „beeindruckenden Machtmaschine“ auf Kosten eigener Stammwähler gemacht, auch die CSU, deren Parteichef Markus Söder Kanzlerambitionen hege, wolle am liebsten gar nicht mehr an ihre eigenen Positionen von vor wenigen Jahren erinnert werden.
FDP gefällt sich in der Rolle des Störenfrieds
Angela Merkel habe erst mit ihrer Strategie der Erschließung neuer Wählergruppen die SPD an den Rand gedrängt und versuche das Gleiche nun mit den Grünen. Die CSU vollziehe dasselbe, nur etwas zeitversetzt:
„Erst wollten die Herren Seehofer und Söder vor allem die traditionell-konservativen Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen. Das war die Zeit, als die CSU in der Flüchtlingskrise Grenzschließungen oder in Bayern einen Kruzifix-Erlass gefordert hat. Herr Söder von heute will an Herrn Söder von damals am liebsten nicht mehr erinnert werden.“
Es sei aus diesem Grund auch nachvollziehbar, warum die Unionsparteien die FDP immer schärfer angriffen. Die Freien Demokraten seien als bürgerliche Partei der Mitte für viele Unionswähler eine Alternative geworden, die sich eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Politik wünschten, die „nicht die Sehnsucht der Kanzlerin war und ist“. Da die FDP damit ein „Störenfried“ sei und die Unionswähler stets an die Beliebigkeit ihrer Parteien erinnere, griffen diese lieber die Liberalen an, statt gegenüber der Basis zu rechtfertigen, warum man die Grünen als Koalitionspartner vorziehe.
Wissing sieht Liberale als „Angstgegner“ der Union
Die Koalition Merkels mit der FDP im Jahr 2009 sei dieser kein Herzensanliegen gewesen, meint Wissing. Es sei eine Lösung gewesen, die von den Wählern erzwungen worden wäre. Merkel selbst schätze die großen Mehrheiten, die ihr die großen Koalitionen eröffneten, und die der Exekutive eine Übermacht gegenüber dem Parlament verschafften.
Während Merkel und die Union „das bürgerliche Lager in Deutschland aufgegeben“ hätten, werde traditionell-bürgerliche und marktwirtschaftliche Politik nur noch von der FDP betrieben. Dies mache die Liberalen zum „Angstgegner“ einer Union, die nur noch als „Poll-Follower“ fungiere und es in Kauf genommen habe, dass die AfD sich am rechten Rand etablieren konnte. Meinungsumfragen und Stimmungen seien für Merkel zum Überzeugungsersatz geworden:
Erst die Laufzeitverlängerung, dann der überhastete Ausstieg aus der Kernenergie, erst die Flüchtlingskanzlerin, dann die vermeintliche Abschiebekanzlerin: Wer versucht, in der Politik von Angela Merkel eine wertebasierte Konstante zu finden, wird sich sehr schwertun.“
„Gefühlte moralische Überlegenheit“ als Band zwischen Grünen und Konservativen
Wissing geht davon aus, dass die schwarz-grüne Sehnsucht, die sich in den Führungsetagen der Unionsparteien abzeichne, Konsequenz eines im Grunde autoritären und normativen Gesellschaftsverständnisses seien. Die Grünen leiteten „aus einer gefühlten moralischen Überlegenheit der eigenen Positionen das Recht ab […], andere Anliegen, Interessen und Befindlichkeiten oftmals geringschätzig abzutun“. Gesellschaftspolitisch gehe es den Grünen wie der CDU nicht darum, die eigenen Werte und Vorstellungen selbst leben zu können:
Sie wollen andere dazu zwingen, diese zu übernehmen. Auch unter diesem Aspekt ist Schwarz-Grün nur konsequent. Als Freiem Demokraten sträuben sich mir bei diesem autoritär-missionarischen Politikansatz die Haare.“
Wissing, der als Weinbauminister und stellvertretender Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz in einer Ampelkoalition vertreten ist, sieht in einem Bündnis aus SPD, Grünen und Liberalen auch ein potenzielles Modell für den Bund. Die Grünen würden ihre Klientel bedienen, die SPD auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt achten, die FDP sichere Wirtschaft, Arbeitsplätze und Bürgerrechte.
FDP ist „eine konstruktive, keine destruktive Partei“
Der Teamgeist und die Kompromissbereitschaft reichen dabei offenbar weit, was auch der NZZ auffällt. Sie spricht Wissing darauf an, dass die FDP Corona-Maßnahmen wie die Zwangsschließung der Gastronomie zwar lautstark kritisiere, als Koalitionspartner auf Länderebene jedoch mittrage. Der FDP-Generalsekretär erklärt dies damit, dass er als Landespolitiker einen Gestaltungsauftrag für das Land habe, aber keinen, um Opposition gegen den Bund zu betreiben:
Wir machen auf Bundesebene konstruktive Vorschläge, und auf Landesebene arbeiten wir konstruktiv in den jeweiligen Regierungsbündnissen. Die FDP ist eine konstruktive, keine destruktive Partei.“
Niedersachsen: CDU-Fraktionschef will Geschäfte und Kirchen wieder schließen
Eine ernste Bewährungsprobe könnte auf die FDP in Bund und Ländern schon in Kürze zukommen, wenn es um das von Kritikern als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnete, neu gefasste Infektionsschutzgesetz geht, das in der kommenden Woche durch den Bundestag gehen soll. Dieses würde der Exekutive noch mehr Möglichkeiten geben, Lockdown-Maßnahmen auch ohne vorherige Abstimmung mit Parlament und Ländervertretern anzuordnen.
Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der derzeitige „Lockdown-Light“, der seit Anfang des Monats gilt, verlängert oder gar verschärft werden könnte. Der Unionsfraktionschef im Landtag, Dirk Toepffer, wird in der „Hannoverschen Allgemeinen“ dahingehend zitiert, dass er „keine Tabus, keine Denkverbote“ hinsichtlich möglicher weiterer Verschärfungen gelten lassen wolle. Sogar eine Debatte über eine erneute Schließung des Einzelhandels und ein Verbot von Gottesdiensten will er „nicht erst dann führen, wenn es zu spät ist“.
In Nordrhein-Westfalen sperrt sich demgegenüber der stellvertretende Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) gegen Vorschläge, in den kommenden Wochen Kitas und Schulen zu schließen. Auch die Schließung der Gastronomie will er bei erster Gelegenheit wieder beenden.
Deutsche vom Lockdown immer noch angetan – 35 Prozent wollen Impfzwang
Die Deutschen insgesamt scheinen die Corona-Maßnahmen immer noch mit Gleichmut hinzunehmen. Einer jüngst veröffentlichten Civey-Umfrage für den „Spiegel“ zufolge finden immer noch 67 Prozent der Befragten die Maßnahmen entweder eindeutig oder überwiegend richtig – 44 Prozent sind sogar entschieden für die Lockdown-Politik. Nur 28 Prozent lehnen sie ab, allerdings ist jeder fünfte Befragte kategorisch gegen weitere Einschränkungen. Immerhin sind mehr als die Hälfte der befragten FDP-Anhänger eindeutig gegen den Lockdown.
Einer vom Portal des Publizisten Boris Reitschuster in Auftrag gegebenen INSA-Umfrage zufolge wollen sogar 35 Prozent aller Deutschen, dass bei Vorliegen eines Impfstoffs gegen das Coronavirus eine Impfung verpflichtend für alle Bürger angeordnet wird. Unter Wählern der Unionsparteien und der SPD ist dies sogar eine Mehrheit.
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