WHO-Skandal um sexuellen Missbrauch im Kongo
Auf der offiziellen Website der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird Generaldirektor Tedros Ghebreyesus mit folgenden Worten zitiert: „Bei der Arbeit der WHO geht es um den Dienst am Menschen, um den Dienst an der Menschheit“.
Angesichts eines neuen Berichtes bekommt das Zitat jedoch einen bitteren Beigeschmack: Eine unabhängige Untersuchungskommission stellt fest, dass 21 WHO-Mitarbeiter schwerwiegende Misshandlungen, darunter auch eine Reihe von Vergewaltigungen, begangen haben.
Der Skandal führte zu 29 Schwangerschaften, wobei einige Frauen später von ihren Peinigern sogar zur Abtreibung gezwungen wurden, wie die Untersuchung ergab.
Hauptspender verlangen Reformen
Die WHO hat ihren Abschlussbericht zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs während des Ebola-Ausbruchs in der Demokratischen Republik Kongo zwischen 2018 und 2020 am 28. September veröffentlicht. In der Zeit waren etwa 2.800 Mitarbeiter und Vertragspartner der WHO im Ostkongo im Einsatz.
„Das Erste, was ich den Opfern und Überlebenden sagen möchte … Es tut mir leid“, sagte Tedros auf einer Pressekonferenz nach der Veröffentlichung des Berichts. Es sei nun seine oberste Priorität, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Er täte sich gut damit, dies schnell durchzuführen, denn die größten Spender der Organisation verlangen Maßnahmen und umfangreiche Reformen. Sie fordern auch eine „Bewertung der institutionellen Politik, der operativen Prozesse, der Führungskultur und der Umstände bei der WHO, die es ermöglicht haben, dass dies geschehen konnte“.
Die Identität von 83 mutmaßlichen Tätern ist den UN-Behörden inzwischen bekannt. Es handelte sich sowohl um kongolesische Staatsangehörige als auch um Ausländer. In 21 Fällen konnten die UN-Ermittler mit Sicherheit feststellen, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um Mitarbeiter der WHO im Rahmen der Ebola-Bekämpfung handelte.
Auch Ärzte unter den Tätern
Die meisten Täter waren zeitlich befristet angestellt. Sie haben ihre Position ausgenutzt, um sexuelle Gefälligkeiten zu erlangen. Unter den mutmaßlichen Tätern befanden sich aber auch hoch qualifizierte internationale Mitarbeiter, darunter Ärzte, Berater und Verwaltungsangestellte.
Insgesamt befragte die Kommission 75 mutmaßliche Opfer im Alter von 13 bis 43 Jahren zu den Vorfällen. Den meisten wurde Arbeit im Austausch für Sex angeboten. In neun Fällen gehen die Ermittler von Vergewaltigung aus.
In einem in dem Bericht zitierten Vorfall sagte eine Frau, die bei der Ebola-Überwachungskommission in Butembo beschäftigt war, dass ihr Chef, ein für die WHO arbeitender Arzt, von ihr Sex oder die Hälfte ihres Monatsgehalts als Gegenleistung für ihre Anstellung verlangte. Mit anderen Worten bezahlte sie ihn.
Jüngstes Opfer 13 Jahre alt
Das jüngste Opfer erinnerte sich, dass ihr ein WHO-Fahrer in der kleinen Stadt Mangina in Nord-Kivu anbot, sie nach Hause zu fahren. Sie sagte, dass der Mann sie nicht nach Hause brachte, sondern vergewaltigte. Sie wurde schwanger und bekam ein Kind.
In dem Bericht heißt es, dass einige der Opfer durch den Missbrauch traumatisiert wurden. Einige der Männer verabreichten den Mädchen und Frauen, die sie geschwängert hatten, Abtreibungspillen oder -injektionen.
Die finanzielle Unsicherheit verschlimmerte sich bei manchen Opfern infolge des Missbrauchs und der Ausbeutung. Zwei von ihnen gaben an, dass sie nach Bekanntwerden ihrer Schwangerschaften gezwungen waren, das Studium abzubrechen.
Die WHO werde die Vergewaltigungsvorwürfe bei den kongolesischen Behörden vorbringen, sagt Tedros, der zur Zeit des Ausbruchs von Ebola Kongo 14-mal besucht hatte.
Obwohl die Mehrheit der Ankläger Frauen und Mädchen waren, machten auch mehrere Männer Ansprüche auf sexuellen Missbrauch oder Belästigung geltend, so der Bericht.
„Jeder hatte Sex im Austausch für etwas“
Trotz bekannter Vorfälle von sexuellem Missbrauch bei anderen UN-Einsätzen stellte die Kommission fest, dass die WHO-Mitarbeiter „überhaupt nicht wussten“, wie man mit sexueller Ausbeutung und Missbrauch umgeht.
Den Teams vor Ort „fehlte es von vornherein an jeglicher Fähigkeit, die Risiken sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs, die während ihrer Einsätze auftreten könnten, zu bewältigen“.
Diese Einschätzungen gehen jedoch nicht auf, wenn man den Aussagen der Befragten Aufmerksamkeit schenkt. Es war nämlich kein Geheimnis, dass Frauen unter Druck gesetzt wurden, Sex gegen Jobs, Beförderungen und sogar Hilfsgüter einzutauschen.
Eine junge Frau in der Stadt Beni, die bei der WHO als Archivarin und später in der Logistik arbeitete, erzählte den Ermittlern der Kommission, dass es allgemein bekannt war, dass man Sex haben musste, um weiterzukommen. „Jeder hatte Sex im Austausch für etwas“, sagte sie. „Es war sehr verbreitet.“
Sie erzählte, dass sie sogar um Sex gebeten wurde, als sie versuchte, in einem Basislager für Entwicklungshelfer, in dem sie untergebracht war, Badewasser zu bekommen.
Die WHO hat vier der mutmaßlichen Täter entlassen. Ein WHO-Anwalt sagte gegenüber NPR, dass keiner der in dem Bericht genannten 17 WHO-Mitarbeiter noch für die Organisation arbeitet.
Die Kommission konnte im Rahmen ihrer Untersuchung acht Beschuldigte befragen. Sechs leugneten jegliche Beteiligung, während zwei sexuelle Beziehungen zugaben, die aber dem Bericht zufolge einvernehmlich gewesen seien.
UN-Mitarbeiter genießen Immunität
Bislang wurde trotz der verheerenden Vergewaltigungs- und Nötigungsvorwürfe noch keine Strafanzeige erstattet. Das könnte daran liegen, dass die meisten UN-Mitarbeiter durch funktionale Immunität geschützt sind.
Das bedeutet, dass sie nicht für etwas, das sie im Rahmen ihrer Arbeit getan haben, vor Gericht gestellt werden können. Der UN-Generalsekretär kann die Immunität aufheben, wenn diese „den Lauf der Gerechtigkeit behindern würde“, sagte Tedros.
Jedoch welche Tragweite der Bericht tatsächlich haben wird, zweifelt Paula Donovan, AIDS-Rechtlerin aus den USA, an. Sie fordert seit Jahren ein Ende der Straffreiheit für sexuellen Missbrauch durch UN-Personal.
Donovan bezeichnet den neuen Bericht der WHO-Kommission als „kriminelle Scheinuntersuchung“. Sie sagt, die WHO solle keine Vorwürfe schwerer Verbrechen untersuchen, die gegen die Organisation selbst und ihre eigenen Mitarbeiter erhoben werden.
Die WHO kontrolliere das Narrativ dieser Geschichte. Was die WHO-Leitung über Sexualstraftaten ihrer eigenen Mitarbeiter wusste oder nicht wusste, sollte nicht von der WHO untersucht werden. Externe und unabhängige Fachleute sollten die Vorwürfe aufklären, „die von Regierungen angestellt sind und die rechtliche Befugnis haben, Verbrechen zu untersuchen“, so Donovan.
Auch andere Menschenrechtler sind der Meinung, dass die bisher unternommenen Schritte seitens der WHO nicht genügen. „Ein paar Worte, um sich zu entschuldigen, reichen nicht aus“, sagt Asmita Naik, internationale Menschenrechtsberaterin und Anwältin für Opfer sexueller Ausbeutung gegenüber „Devex“, einer medialen Plattform der globalen Entwicklungsgemeinschaft.
„Es muss Konsequenzen geben.“ Sie plädiert dafür, dass der WHO die Mittel gestrichen werden und die Geber ihre Gelder an Organisationen umleiten, „die es besser machen“.
Der Oxfam-Fall
Die ersten Vorwürfe an Hilfsorganisationen wurden schon genau vor einem Jahr am 29. September 2020 laut. Die Nachrichtenagenturen „The New Humanitarian“ und „Thomson Reuters Foundation“ gaben damals die Ergebnisse ihrer Recherchen bekannt. Demnach beschuldigen mehr als 50 Frauen Ebola-Helfer der WHO und führender NGOs der sexuellen Ausbeutung und des Missbrauchs in der Demokratischen Republik Kongo.
Die Befragten haben auch konkret ausgesagt, welche NGOs betroffen waren: UNICEF, Oxfam, Ärzte ohne Grenzen, World Vision, ALIMA und die Internationale Organisation für Migration.
Die Vorwürfe an Oxfam wurden durch fünf Whistleblower bestätigt. Sie forderten die Chefs der Organisation zum Handeln auf. „Wir waren es leid, dass Oxfam nichts gegen unsere Bedenken und Beschwerden unternommen hat, die wir seit Jahren vorgebracht haben“, sagte ein Whistleblower gegenüber „The New Humanitarian“ im April. Die Agentur wurde 1995 ursprünglich als UN-Informationsdienst ins Leben gerufen, trennte sich jedoch 2015 von den UN.
Ein ehemaliger Oxfam-Mitarbeiter beschrieb die institutionelle Kultur als „korrupt“. Viele der Mitarbeiter, die für die Ebola- und COVID-19-Bekämpfung eingestellt wurden, waren Familienangehörige oder Freunde von Mitarbeitern oder Frauen, mit denen einige Mitarbeiter geschlafen hatten. Das förderte ein Umfeld, das dem Missbrauch Tür und Tor öffnete.
Oxfam hat zwei Mitarbeiter entlassen. Sexualstraftäter könnten dennoch aufgrund unzureichender Schutz- und Meldemechanismen immer noch eingestellt werden, so der Internationale Entwicklungsausschuss (IDC).
Für das Ausmaß des Problems sei ein wesentlicher Faktor verantwortlich. Afrikanische Länder sind seit ihrer Unabhängigkeit nach der Kolonialzeit Empfänger von ausländischer Hilfe. Die Kultur der Entwicklungshilfe hat Experten zufolge jedoch vielmehr zur Abhängigkeit der Einheimischen als zu deren Eigenständigkeit geführt.
Die Einzelnen, vor allem Empfängerinnen, haben ihr Leben komplett auf den Erhalt der Hilfen ausgerichtet. Sie ernähren sich und ihre Familie davon. Oft bedeutet die Anwesenheit einer Hilfsorganisation auch gleichzeitig eine zusätzliche Arbeitsmöglichkeit. So sind sie praktisch diesen ausgeliefert.
Laut dem IDC-Ausschuss hat die Corona-Pandemie das Problem wahrscheinlich noch weiter verschärft, da die Nahrungsmittelknappheit und die Kürzungen die ohnehin schon abhängigen, meist weiblichen Hilfeempfänger noch verletzlicher machen.
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