Gaza-Deal auf der Kippe? Netanjahu erhebt Erpressungsvorwürfe gegen Hamas
Der Deal zwischen der israelischen Regierung und der Terrororganisation Hamas zu einer Geisel-Übergabe und einem Waffenstillstand droht zu scheitern.
Das Büro von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu machte der Terrororganisation am Donnerstagmorgen neue Vorwürfe und zögert daher, dem Deal formell zuzustimmen.
Die Hamas halte sich nicht an die Absprachen und verursache mit einem Erpressungsversuch eine Krise in letzter Minute, die eine Einigung verhindere, erklärte das Büro des Premierministers. Israel werde keinen Termin für eine Kabinettssitzung festlegen, bis die Vermittler bekannt geben, dass die Hamas alle Einzelheiten des Abkommens gebilligt hat.
Die Hamas hat Vorwürfe aus Israel zurückgewiesen, denenzufolge sie sich von einigen Punkten des Abkommens über eine Waffenruhe im Gazastreifen zurückgezogen habe. Die Anschuldigungen von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu entbehrten „jeder Grundlage“, sagte ein Hamas-Vertreter am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP.
Die Hamas fordere die scheidende sowie die künftige US-Regierung dazu auf, Israel „zu zwingen, das Abkommen umzusetzen“, betonte er.
Hilfspaket von 120 Millionen Euro
Die Europäische Union hat nach der Vereinbarung über eine Waffenruhe im Gazastreifen ein neues Hilfspaket von 120 Millionen Euro angekündigt. Die Mittel sollten helfen, die „katastrophale“ Lage der Menschen im Gazastreifen zu verbessern, sagte EU-Kommissionssprecherin Eva Hrncirova am Donnerstag in Brüssel. Vorgesehen seien Nahrung, Arzneimittel und Notunterkünfte für die Palästinenser in dem Küstenstreifen.
„Wir hoffen, dass der Waffenstillstand den Zugang für humanitäre Hilfe im Gazastreifen erheblich verbessert und dass die Hilfe an die Bedürftigen verteilt werden kann“, betonte die EU-Kommission. Dies soll in Zusammenarbeit mit den UN-Organisationen vor Ort geschehen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte die am Mittwochabend verkündete Waffenruhe für den Gazastreifen als Signal der „Hoffnung“ für die Region bezeichnet.
Freilassung von Geiseln
Das Abkommen ist in drei Phasen unterteilt und soll am Sonntag in Kraft treten. In der ersten, sechswöchigen Phase „wird die Hamas 33 der insgesamt 98 israelische Geiseln, darunter Frauen, Kinder, ältere Menschen, Zivilisten und Verwundete, im Austausch für Gefangene in israelischen Gefängnissen freilassen“, sagte der katarische Regierungschef Mohammed bin Abdulrahman al-Thani in Doha. US-Präsident Joe Biden sprach von hunderten palästinensischen Gefangenen, die freikommen sollen.
Israel werde etwa 1000 Palästinenser aus den Gefängnissen entlassen, auch solche mit „längeren Haftstrafen“, erfuhr die Nachrichtenagentur AFP aus dem Umfeld der Hamas.
Ein israelischer Regierungsvertreter sagte, dass die genaue Zahl der Palästinenser davon abhänge, wie viele der 33 Geiseln noch am Leben seien.
800 Meter Pufferzone
Biden zufolge umfasst Phase eins auch „einen vollständigen Waffenstillstand und den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus allen besiedelten Gebieten des Gazastreifens“.
Die israelische Armee werde „entlang der Grenze zum Gazastreifen positioniert, was den Austausch von Gefangenen und Leichen sowie die Rückkehr von Vertriebenen in ihre Häuser ermöglichen wird“, erklärte al-Thani.
Israelische Medien berichteten, Israel werde im Rahmen des Abkommens während der ersten Phase eine Pufferzone im Gazastreifen aufrechterhalten.
Aus dem Umfeld der Hamas hieß es, die Soldaten dürften sich bis zu 800 Meter tief innerhalb des Palästinensergebiets aufhalten. Der israelische Regierungsvertreter sagte, die Armee werde sich erst dann vollständig zurückziehen, wenn „alle Geiseln zurückgekehrt sind“.
Zudem soll die humanitäre Hilfe für die Palästinenser aufgestockt werden.
Endgültiges Ende des Krieges
Details zu den Phasen zwei und drei werden Katar zufolge im Laufe der ersten sechs Wochen ausgehandelt. „Es wird einen Austausch zur Befreiung der verbliebenen, noch lebenden Geiseln geben“, sagte Biden.
Israel müsse in dieser zweiten Phase alle Soldaten abziehen und aus dem vorläufigen werde ein dauerhafter Waffenstillstand. Die zweite Phase markiere „ein endgültiges Ende des Krieges“, betonte der US-Präsident.
In Phase drei sollen laut Biden die Leichen der toten Geiseln ihren Familien übergeben werden. Das sei auch der Beginn eines „großen Wiederaufbauplans für den Gazastreifen“, sagte Biden ohne Einzelheiten zu nennen.
„Wir hoffen, dass dies das letzte Kapitel des Krieges sein wird, und wir hoffen, dass sich alle Parteien zur Umsetzung aller Bedingungen dieses Abkommens verpflichten werden“, sagte auch al-Thani. Die USA, Katar und Ägypten wollen die Vereinbarungen von Kairo aus genau überwachen.
Noch herrscht Ungewissheit
Es bleibt ungewiss, ob die zunächst für sechs Wochen vereinbarte Waffenruhe auch ein dauerhaftes Ende des Krieges einleiten wird. Auf Details einer zweiten und dritten Phase des Abkommens wollen sich die Konfliktparteien während der ersten Phase einigen. Uneinigkeit herrscht unter anderem über die Frage, wer den Gazastreifen künftig regieren soll. Auch ist offen, ob sich beide Seiten in den kommenden Wochen an die vereinbarten Schritte halten werden. Sollte das Abkommen scheitern, dürften die Kämpfe weitergehen.
Schon jetzt gibt es bei den abschließenden Gesprächen zur ersten Phase Ärger. Israelische Medien berichteten, dass das israelische Verhandlungsteam derzeit weitere Details ausarbeite. Israelischen Angaben zufolge gibt es etwa noch Streit darüber, welche palästinensischen Häftlinge im Gegenzug für die Geiseln freigelassen werden sollen.
Das israelische Kabinett werde erst dann zur Billigung des Deals zusammentreten, „wenn die Vermittler Israel mitteilen, dass die Hamas alle Elemente des Abkommens akzeptiert hat“, erklärte Netanjahus Büro. Die Sitzung war zuvor am Donnerstag um 10.00 Uhr (MEZ) geplant gewesen.
Hunderte Israelis demonstrieren gegen das Abkommen
Beobachter sehen Netanjahu unter Druck. Mehrere Politiker in Israel sind gegen die Vereinbarung und drohen, die Koalition zu verlassen. Es wird davon ausgegangen, dass der Deal trotz des Widerstands vom Sicherheitskabinett und anschließend vom gesamten Kabinett gebilligt wird.
Hunderte Menschen demonstrierten in Israel Medien zufolge gegen das Abkommen. Für eine Einigung hatte es in der Vergangenheit immer wieder Massenproteste mit teils Zehntausenden Teilnehmern gegeben.
Palästinenser: Dutzende Tote bei israelischen Angriffen in Gaza
Israels Armee greift derweil palästinensischen Angaben zufolge weiter massiv Ziele im Gazastreifen an. Seit der Verkündung der Einigung auf das Abkommen durch den Vermittlerstaat Katar am Mittwochabend kamen einem Sprecher des von der Hamas kontrollierten Zivilschutzes zufolge mehr als 70 Palästinenser bei israelischen Angriffen in dem Küstengebiet ums Leben. Darunter sollen auch Minderjährige und Frauen sein. Die meisten Toten habe es in der Stadt Gaza gegeben. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Israels Armee betont stets, im Kampf gegen die islamistische Terrororganisation Hamas Maßnahmen zu ergreifen, um Zivilisten zu schonen.
Baerbock: Fast wieder Tränen in den Augen
Außenministerin Annalena Baerbock zeigte sich berührt über die Einigung auf eine Waffenruhe und den Geisel-Deal. „Ich habe gestern Nacht so bewegende Nachrichten bekommen. Da steigen mir fast selbst noch wieder die Tränen in die Augen“, sagte die Grünen-Politikerin im ARD-„Morgenmagazin“. Die Europäer könnten dabei unterstützen, humanitäre Hilfe über den Grenzübergang in Rafah in Ägypten nach Gaza zu bringen, sagte sie. „Der Grenzübergang ist beschädigt. Dafür könnte die EU Unterstützung leisten.“
Warten auf Öffnung von Grenzübergang Rafah
Ägypten will den wichtigen Grenzübergang Sicherheitskreisen zufolge „in den kommenden Stunden“ wieder öffnen. Auch die palästinensische Seite sei angewiesen worden, den Übergang für die Einfuhr dringend benötigter Hilfslieferungen vorzubereiten. Einem Vertreter des Ägyptischen Roten Halbmonds im Nord-Sinai zufolge wurden rund 600 Laster mit Hilfsgütern für die Einfuhr nach Gaza vorbereitet.
Israels Armee hatte den Grenzübergang Rafah im Mai vergangenen Jahres auf der palästinensischen Seite besetzt. Kurz darauf kamen über Rafah keine Hilfslieferungen aus Ägypten mehr in das abgeriegelte Küstengebiet.
Die humanitäre Lage war in Gaza schon vor Kriegsbeginn sehr schlecht und hat sich durch Israels massive Bombardierungen auf dramatische Weise verschärft. Mehr als 90 Prozent der gut zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens leiden nach UN-Angaben starken Hunger. Es fehlt demnach zudem an Trinkwasser, Notunterkünften und Arzneimitteln.
Wegen der Schließung des Übergangs Rafah kamen Hilfsgüter in vergangenen Monaten nur durch von Israel kontrollierte Übergänge wie Kerem Schalom, Erez und Kissufim. Immer wieder wurden Hilfslieferungen auch geplündert, nachdem sie in den Gazastreifen eingefahren waren.
Der Krieg im Gazastreifen war durch den Großangriff der Hamas und mit ihr verbündeter Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst worden. Dabei wurden israelischen Angaben zufolge 1210 Menschen getötet, 251 Geiseln wurden in den Gazastreifen verschleppt. 94 der Geiseln sollen sich nach wie vor dort befinden, 34 von ihnen sind laut der israelischen Armee bereits tot. Unter den noch festgehaltenen Geiseln befindet sich auch eine niedrige zweistellige Zahl von Menschen mit Deutschland-Bezug, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.
Israel ging seit dem Hamas-Überfall massiv militärisch im Gazastreifen vor. Dabei wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde, die nicht unabhängig überprüft werden können, bislang mehr als 46.700 Menschen getötet. Auch nach der Ankündigung einer möglichen Waffenruhe setzte die israelische Armee ihre Angriffe auf Ziele in dem Palästinensergebiet fort. Laut dem palästinensischen Zivilschutz wurden mindestens 73 Menschen getötet und hunderte weitere verletzt.
(dts/afp/red)
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