Vor Prager Treffen: Die NATO ringt um den Einsatz ihrer Waffen gegen Russland
Auf dem NATO-Gipfel in Washington in gut fünf Wochen wollen die Mitgliedsländer Rückendeckung für die Ukraine und Stärke gegenüber Russland demonstrieren. Allerdings werden zunehmend Risse im Bündnis deutlich.
Wenn die Außenminister der 32 Nato-Länder ab heute Abend in Prag zur Gipfelvorbereitung zusammenkommen, droht Streit um den Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele in Russland.
Bei dem Spitzentreffen im Juli in Washington soll unter anderem beschlossen werden, Aufgaben zur Unterstützung der Ukraine, die bislang von den USA übernommenen wurden, auf das Bündnis zu übertragen.
Diplomaten berichten vor dem Treffen von zunehmender „Frustration“ bei osteuropäischen Verbündeten über die USA und Deutschland. Beide Länder schließen bisher aus, dass die Ukraine von ihnen gelieferte Waffen gegen russisches Staatsgebiet richten kann – so jedenfalls verstehen es die Partner.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief die Verbündeten deshalb auf, ihre roten Linien zu überprüfen. Ansonsten seien den Ukrainern „die Hände gebunden“, warnte er angesichts der Kämpfe rund um Charkiw.
Macron pro, Scholz und Pistorius vorsichtig, Hofreiter dafür
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprang ebenfalls für Kiew in die Bresche: Die Verbündeten müssten der Ukraine erlauben, Militärstützpunkte in Russland „zu neutralisieren, von denen aus Raketen abgeschossen werden“, sagte Macron am Rande des deutsch-französischen Ministerrats in Meseberg nördlich von Berlin.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte hingegen zurückhaltend. Er wolle verhindern, dass es „zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommt“.
Verteidigungsminister Boris Pistorius äußerte sich ähnlich. „Klar sollte sein, im Interesse auch militärischer Taktik und Strategie, dass man nicht öffentlich darüber diskutiert, was geht, was erlaubt ist und was wir möchten oder sehen möchten oder nicht“, sagte der SPD-Politiker beim Besuch der Flugabwehrraketengruppe 21 in Sanitz in Mecklenburg-Vorpommern, die das Waffensystem Patriot einsetzt.
„Das Völkerrecht lässt das alles zu. Was dann im Einzelnen geregelt ist zwischen den Staaten, das hat der Kanzler gestern gesagt, ist eine Regelung zwischen den Staaten.“
Anton Hofreiter (Grüne), Vorsitzender des Europa-Ausschusses im Bundestag, setzt sich hingegen erneut dafür ein, westliche Waffen zur Selbstverteidigung auch gegen Ziele auf russischem Territorium einzusetzen. „Es geht schlichtweg darum, dass die Ukraine sich verteidigen darf“, sagte Hofreiter zu „RTL Direkt“ am Dienstagabend. Er erklärte, Deutschland werde auch dadurch nicht zur Kriegspartei. „Wir müssen der Ukraine gestatten, dass ihre Flugabwehr sich wirklich verteidigen kann und auch die Millionenstädte an der russischen Grenze.“
USA deutete Flexibilität an
US-Präsident Joe Biden gibt sich bisher vorsichtig, Außenminister Antony Blinken deutete Flexibilität an. Seit Beginn des Krieges habe die US-Regierung ihre Unterstützung für die Ukraine an die sich verändernden Bedingungen angepasst, sagte Blinken während eines Besuchs im kleinen Nachbarland Moldau. Und er sei „zuversichtlich, dass wir das auch weiterhin tun werden“.
Die USA stellen der Ukraine ihre Waffen bislang zur Verfügung, damit diese ihre besetzten Gebiete befreit, aber nicht für Angriffe auf Russland selbst. Offiziell geändert hat die US-Regierung ihre Position nicht.
„Es gibt keine Änderung unserer Politik: Wir ermutigen weder dazu, noch ermöglichen wir den Einsatz von US-Waffen auf russischem Boden“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby.
Die „New York Times“ hatte vor einigen Tagen berichtet, Blinken werbe innerhalb der Regierung dafür, der Ukraine den Einsatz von US-Waffen gegen Ziele innerhalb russischen Gebiets zu ermöglichen. Er wolle Präsident Biden dazu bewegen, die Einschränkungen aufzuheben, hieß es. Das Außenministerium wollte den Bericht damals weder dementieren noch bestätigen.
Für Selenskyj geht es zu langsam
Bei der Waffenhilfe für die Ukraine geht es bei den NATO-Staaten ebenfalls nicht so schnell voran wie Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Osteuropäer im Bündnis es sich wünschen. Selenskyj hat die Verbündeten um sieben weitere Luftabwehrsysteme vom Typ Patriot gebeten, um Russlands Hyperschallraketen abschießen zu können. Deutschland hat ein weiteres System bereits zugesagt.
Deutschland wird seinerseits für die Bundeswehr insgesamt acht neue Flugabwehrsysteme des Typs Patriot erhalten. Die Auslieferung soll demnach ab 2026 erfolgen. Mit den Neubeschaffungen sollen vor allem Lücken aufgefüllt werden, die durch die Abgabe von Flugabwehrsystemen an die Ukraine entstanden sind. Berlin hat bislang zwei Patriot-Systeme an die Ukraine geliefert.
Im Bündnis gibt es erhebliche Zweifel, ob sechs weitere Patriots oder andere Systeme bis Washington zusammenkommen. Deshalb spricht sich mancher Diplomat dafür aus, Kiews Erwartungen vor dem Nato-Gipfel zum 75-jährigen Bestehen der Allianz zu dämpfen.
Munition kommt aus Tschechien – unabhängig von der NATO
Fortschritte könnten in Prag beim Thema Munition verkündet werden: Tschechiens Regierungschef Petr Fiala hat angekündigt, dass die Ukraine in den kommenden Tagen mit zehntausenden Artilleriegranaten vom NATO-Standard 155 Millimeter rechnen kann. Tschechien hatte die Munition mit rund 20 internationalen Partnern außerhalb Europas eingekauft, eine Nato-Initiative ist dies allerdings nicht.
Auch die Haltung Ungarns sorgt in der transatlantischen Allianz zunehmend für Verstimmung. Manche Äußerungen von Regierungschef Viktor Orban zur NATO seien schlicht haarsträubend, sagt ein Diplomat. US-Medien berichten, der Russland nahestehende Orban wolle Ungarns Rolle im Bündnis neu definieren und Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets nicht länger mittragen.
Auch bei der Stoltenberg-Nachfolge stellt sich Ungarn bisher quer. Seit dem grünen Licht der Türkei unterstützen 29 der 32 Nato-Länder den scheidenden niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte für den Posten des Generalsekretärs. Darunter sind die USA und Deutschland. Orban hält allerdings dem Vernehmen nach nichts von Rutte, weil sich der Niederländer auf EU-Ebene kritisch zu Rechtsstaatsmängeln in Ungarn geäußert hatte.
Überzeugungsarbeit ist bis zum Washington-Gipfel vom 9. bis 11. Juli auch noch bei Rumänien und der Slowakei nötig. Rumänien hat mit Präsident Klaus Iohannis einen Gegenkandidaten zu Rutte aufgestellt. Notfalls, so heißt es in Brüssel, könne der Streit auch noch nach dem NATO-Gipfel gelöst werden. Stoltenbergs Amtszeit endet offiziell am 1. Oktober.
Ukraine-Gipfel in der Schweiz
Rund zweieinhalb Wochen vor dem geplanten Ukraine-Friedensgipfel in der Schweiz äußerte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj derweil hoffnungsvoll mit Blick auf die Veranstaltung.
Russland übe zwar Druck auf Staaten aus, damit diese nicht teilnehmen, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Ansprache. Es sei aber „nicht länger in der Lage, den Gipfel zu stören, auch wenn es sich große Mühe gibt, das zu tun“.
Die Schweiz organisiert das Treffen auf Wunsch der Ukraine am 15. und 16. Juni auf dem Bürgenstock bei Luzern. Der Gipfel soll mehr internationale Unterstützung für das von Russland angegriffene Land mobilisieren. Die Ukraine hofft, neben Unterstützerländern auch neutrale oder gar mit Russland befreundete Staaten von ihrer Position zu überzeugen. Vor allem China wird umworben.
Es geht bei dem Treffen nicht um direkte Verhandlungen mit Russland, sondern in einem ersten Schritt um die Ausarbeitung von Friedensperspektiven. Moskau ist nicht eingeladen, lehnt eine Teilnahme aber ohnehin ab. (afp/dpa/red)
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