USA: Supreme Court schiebt Selbstermächtigung von Bundesbehörden einen Riegel vor
Der Supreme Court in den USA hat in einer am Freitag, 28. Juni, verkündeten Entscheidung eine seit 1984 angewandte juristische Doktrin für unzulässig erklärt, die zu einer erheblichen Ausweitung der Macht von Bundesbehörden geführt hatte. Die sogenannte Chevron-Beachtlichkeitsdoktrin, die auf einem Rechtsstreit zwischen dem Chevron-Konzern und einer Umweltbehörde gründete, bezieht sich auf Auslegungsregeln. Mit 6:3 Stimmen hat der Oberste US-Gerichtshof nun eine Kehrtwende vollzogen.
Supreme Court kippt eigene Entscheidung von 1984
In der Entscheidung von 1984 hatte es geheißen, dass Gerichte bei der Auslegung von Gesetzen der „eindeutig zum Ausdruck gebrachten Absicht des Kongresses Rechnung tragen“ müssen. Es gibt aber Fälle, in denen der Kongress sich mit einer Frage nicht befasst hat oder das Gesetz bezüglich einer spezifischen Frage stumm oder mehrdeutig sei.
In diesen Fällen, so die Doktrin, sollen Gerichte lediglich prüfen, ob die von einer involvierten Bundesbehörde vertretene Rechtsansicht auf einer „zulässigen Auslegung des Gesetzes“ beruhe. Dies bedeutete, dass Gerichte dort, wo sich eine Bundesbehörde selbst durch Gesetzesinterpretation Regelungsbefugnisse zugestand, lediglich eine Exzesskontrolle betreiben durften. Sofern jedoch kein offenkundiger Missbrauch vorlag, mussten sie davon ausgehen, dass sich die Bundesbehörde rechtmäßigerweise einer Angelegenheit annahm.
De facto machten es sich viele Gerichte auch einfach und überließen es in Zweifelsfällen den Bundesbehörden, zu begründen, warum sie für eine Regelung zuständig seien. Der Supreme Court entschied nun, dass diese Doktrin „nicht durchführbar“ sei. Zudem machte der Oberste Gerichtshof deutlich, dass es die Aufgabe von Gerichten und nicht von Behörden sei, Gesetze zu interpretieren.
Weißes Haus bedauert Missachtung der „Expertise“ von Bundesbehörden
Kritiker hatten die Chevron-Beachtlichkeitsdoktrin bereits seit Langem als Hebel zur Selbstermächtigung von Bundesbehörden betrachtet und eine Beschränkung staatlicher Macht gefordert. Progressive Kräfte hingegen betrachteten die Doktrin als notwendig, um die Funktionsfähigkeit eines modernen Verwaltungsstaates aufrechterhalten zu können.
Das Weiße Haus sprach auch prompt von einer „verstörenden Entscheidung, die für unser Land einen Rückschritt darstellt“. Pressesprecherin Karine Jean-Pierre erklärte, der Supreme Court unterminiere damit „die Fähigkeit von Bundesbehörden, ihre Expertise zum Schutz und Dienst an allen Amerikanern zur Anwendung zu bringen“.
Sie stellte die Entscheidungen in einen Zusammenhang mit weiteren Urteilen des Supreme Court, die ihrer Einschätzung nach „Sonderinteressen“ bedienten. Dazu gehörten jüngste Beschränkungen der Regulierungsmacht von Bundesbehörden beim Gewässerschutz, bei der Corona-Bekämpfung und bezüglich eines möglichen Erlasses von Schulden zur Finanzierung eines Studiums.
Fischereiunternehmen waren vor den Supreme Court gezogen
Die Richter Sonia Sotomayor, Elena Kagan und Ketanji Brown Jackson sahen es ähnlich. Sie begründeten ihr Minderheitsvotum damit, dass die Chevron-Beachtlichkeitsdoktrin dem „Dienst am Bürger in einer immer komplexeren Welt“ diene. In einer solchen sei es nicht möglich, zu jeder Frage eine spezifische Antwort des Kongresses zu erwarten.
Gerade wenn es um Belastungen oder Einschränkungen der Rechte der Bürger geht, setzt die Mehrheit der Richter gerade das aber voraus. Und um solche ging es in den Anlassfällen zu der nunmehrigen Entscheidung. Die Anhörungstermine zu Relentless Inc. vs. Department of Commerce und Loper Bright Enterprises vs. Raimondo hatten im Januar stattgefunden.
Im Jahr 2020 hatten Fischereibehörden des Bundes Fischereiunternehmen vorgeschrieben, Beobachter zur Kontrolle der Einhaltung geltender Vorschriften auf ihren Booten zuzulassen. Außerdem sollten sie für deren Unterbringung und Verpflegung auch die Kosten übernehmen. Unter Berufung auf die Chevron-Entscheidung erklärten Gerichte der Unterinstanzen die Regelung für zulässig. Nun müssen diese unter Berücksichtigung des Urteils des Supreme Court neu entscheiden.
Gorsuch: „Juristische Fiktion auf Kosten der einfachen Leute“
Der Vorsitzende des Gerichtshofs, John Roberts, nannte die Chevron-Beachtlichkeitsdoktrin eine „Regel auf der Suche nach einer Rechtfertigung“. Das Konzept der Mehrdeutigkeit hätte sich jedoch „immer einer sinnvollen Definition entzogen“. Ein Richter sehe möglicherweise überall Mehrdeutigkeiten, ein anderer nirgendwo.
Zur richterlichen Selbstbeschränkung gehöre es, Fehler wieder gutzumachen – vor allem, wenn sie schwerwiegend seien. Und im Fall der Chevron-Beachtlichkeitsdoktrin sei er das gewesen. Die Gerichte müssten ihr unabhängiges Urteil ausüben, wenn sie entscheiden, ob eine Behörde innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse gehandelt habe. Dies verlange auch das bundesstaatliche Verwaltungsverfahrensgesetz (APA).
Richter Neil Gorsuch erklärte, die Doktrin habe eine „konstante Unsicherheit“ geschaffen und vor allem einfache Leute belastet. Sie habe nicht nur Bundesbehörden eine enorme Macht gegeben, ihre eigenen Kompetenzen zulasten der Bürger auszuweiten. Zudem seien allenfalls „raffinierte Akteure und ihre Anwälte“ in der Lage, mit den ständigen Gesetzesänderungen mitzuhalten, die ihre Rechte und Verantwortlichkeiten betreffen.
Der Normalbürger sei dazu regelmäßig nicht in der Lage. Auch deshalb sei es verfassungswidrig, eine juristische Fiktion aufrechtzuerhalten, die diesen ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Richter vorenthalte.
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