„Unser Ziel ist klar – so schnell wie möglich Frieden“
Vor der Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen der Ukraine und Russland zur Beendigung des Krieges hat der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj auf Frieden „ohne Verzögerung“ gedrungen. „Unser Ziel ist klar – so schnell wie möglich Frieden und die Wiederherstellung des normalen Lebens in unserem Heimatland“, sagte Selenskyj in einer Videobotschaft in der Nacht zu Montag.
Laut dem ukrainischen Unterhändler David Arachamia sollen die Gespräche von Montag bis Mittwoch in der türkischen Metropole Istanbul stattfinden. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ein persönliches Treffen der ukrainischen und russischen Verhandler angesetzt wurde. In den vergangenen Wochen waren einige Gesprächsrunden ergebnislos zu Ende gegangen, zuletzt war lediglich online verhandelt worden.
Selenskyj formulierte in seiner Videobotschaft seine roten Linien bei den Verhandlungen mit Russland. „Die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine stehen nicht in Zweifel“, sagte er. „Wirksame Sicherheitsgarantien für unseren Staat sind zwingend.“
Zuvor hatte der ukrainische Präsident in einem Interview mit mehreren unabhängigen russischen Medien gesagt, seine Regierung werde die Frage der von Russland geforderten Neutralität seines Landes „gründlich“ prüfen. Mit Blick auf die von russischen Separatisten kontrollierten Gebiete in der Ostukraine sagte Selenskyj: „Wir verstehen, dass es unmöglich ist, alle Gebiete mit Gewalt zu befreien.“ Eine Rückeroberung der Gebiete würde „den Dritten Weltkrieg“ auslösen.
Eine Neutralität der Ukraine ist eine der russischen Hauptforderungen in den Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Die Ukraine würde bei einem solchen Neutralitätsmodell auf einen Beitritt zur Nato verzichten müssen.
Russland deutete zuletzt angesichts des heftigen Widerstands der Ukrainer einen Strategiewechsel an. Künftig werde sich die Armee auf die „Befreiung“ der Donbass-Region in der Ostukraine konzentrieren, sagte Russlands Vize-Generalstabschef Sergej Rudskoj am Freitag.
Ursprünglich hatte Kreml-Chef Wladimir Putin das Ziel ausgegeben, die Ukraine zu „demilitarisieren und zu entnazifizieren“. Von einer Besetzung des Landes hatte er aber nicht gesprochen, was ihm Beobachtern zufolge nun Spielraum für eine Verhandlungslösung geben könnte.
In der Ukraine wird allerdings befürchtet, Russland könne die neue Verhandlungsrunde nutzen, um taktische und logistische Probleme seiner Truppen in der Ukraine zu beheben. Der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanow schrieb im Online-Netzwerk Facebook, Putin ziele möglicherweise auf eine Teilung der Ukraine nach dem Vorbild von Nordkorea und Südkorea ab.
Kiew befürchtet Zuspitzung der Lage rund um Mariupol
Die Regierung in Kiew befürchtet nun auch eine Zuspitzung der Lage in Mariupol und im Osten des Landes. „Dies bedeutet eine potenzielle oder starke Verschlechterung rund um Mariupol“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch in einer auf dem Telegram-Konto des Präsidenten veröffentlichten Videobotschaft mit Blick auf die angekündigte „Befreiung“ des Donbass. Die ukrainische Armee ging mancherorts unterdessen zum Gegenangriff über.
In der belagerten Hafenstadt Mariupol kämpften die Eingeschlossenen weiter „ums Überleben“, erklärte das ukrainische Außenministerium in der Nacht zum Montag auf Twitter. „Die humanitäre Lage ist katastrophal.“
Selenskyj sagte wiederum, es sei weiterhin „unmöglich, Lebensmittel und Medikamente“ in die Stadt zu bringen. „Die russischen Streitkräfte bombardieren die Konvois mit humanitärer Hilfe und töten die Fahrer.“
Zuvor hatte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk noch gesagt, dass am Sonntag wieder Fluchtrouten mit den russischen Streitkräften vereinbart worden seien, um Menschen aus der belagerten Hafenstadt in Sicherheit bringen zu können. Zuletzt waren mehrere Versuche, sichere Fluchtwege für die Zivilisten einzurichten, gescheitert. Die Kriegsparteien wiesen sich die Schuld daran gegenseitig zu.
Der französische Präsident Emmanuel Macron will am Montag oder Dienstag mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin telefonieren, um dessen Zustimmung für einen „humanitären Einsatz“ in Zusammenarbeit mit Griechenland und der Türkei zu erhalten.
Die Ukrainer könnten nun allerdings hoffen, dass der „Feind“ aus den Regionen Kiew, Tschernihiw, Sumy und Charkiw „vertrieben“ werden könne, sagte der Berater Arestowytsch mit Verweis auf die nördlichen und östlichen Regionen. Die ukrainischen Truppen hätten dort kleine, taktische Gegenangriffe gegen die russischen Truppen gestartet.
Am Sonntag schien sich unter anderem die Kampflinie von der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine zu entfernen, die Bombenangriffe auf die seit Wochen von der russischen Armee belagerte Stadt schienen nachzulassen. Beim rund 80 Kilometer südöstlich gelegenen Cherson starteten ukrainische Soldaten eine Gegenoffensive.
In Cherson selbst, der einzigen größeren bisher von russischen Truppen eroberten ukrainischen Stadt, protestierten am Sonntag laut Augenzeugenberichten rund 500 Menschen gegen die russischen Besatzungstruppen. Die friedliche Demonstration sei mit Tränengas und Rauchgranaten aufgelöst worden, sagte ein Rettungssanitäter telefonisch der Nachrichtenagentur AFP.
In einem Dorf nahe Cherson wurden nach ukrainischen Angaben zwei Menschen durch russischen Beschuss getötet. Auch in Irpin und rings um Kiew gab es wieder russische Angriffe. Im Gegenzug meldete das ukrainische Verteidigungsministerium die Rückeroberung eines Dorfes nahe der Grenze zu Russland.
Nahe der Großstadt Charkiv im Osten wurden laut Angaben der regionalen Staatsanwaltschaft vom Sonntagabend sieben Menschen durch Artilleriebeschuss getötet. Die ukrainische Armee konnte nach Angaben des Generalstabs aus der Nacht zum Montag in den Regionen Donezk und Luhansk insgesamt „sieben feindliche Angriffen abwehren“. Dabei seien acht russische Panzer zerstört worden. Das russische Verteidigungsministerium erklärte wiederum, ein Raketendepot bei Kiew zerstört zu haben.
Die russische Armee hatte ihren Angriff auf die Ukraine am 24. Februar gestartet. Seitdem flohen nach UN-Angaben mehr als 3,8 Millionen Menschen aus der Ukraine. Weitere 6,5 Millionen Menschen sind demnach innerhalb des Landes auf der Flucht. (afp/dts/red)
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