UNO-Ernährungsprogramm: Erdbebenregion ist „apokalyptisch“
Knapp drei Wochen nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien hat der Direktor des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, nachlassende Berichterstattung beklagt. „Wo sind die Nachrichten? Wo sind die Überschriften hin?“, schrieb Beasley am Sonntag bei Twitter. Er zeigte sich zudem bestürzt über die Zerstörung in der südtürkischen Stadt Antakya und nannte die Lage dort „apokalyptisch“.
„Das ist völlig unglaublich“, sagte Beasley in einem Video, das ihn in Antakya zeigt und das er am Samstag bei Twitter teilte. Man könne es sich noch so oft im Fernsehen anschauen, aber solange man es nicht selbst sehe, sei es unmöglich, sich das Ausmaß der Verwüstung vorzustellen. Antakya sei eine „Geisterstadt“, sagte er. „Es gibt nur einen Weg, dies zu beschreiben: apokalyptisch.“ Keiner der Einwohner habe mehr ein Zuhause.
Die Katastrophe nimmt kein Ende
Am 6. Februar hatten zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Nordwesten Syriens erschüttert. Antakya im äußersten Süden der Türkei nahe der syrischen Grenze gehört zu den Orten, die besonders stark zerstört wurden.
Mehr als 50.000 Menschen sind in der Türkei und Syrien durch die Katastrophe gestorben. Nach UN-Angaben sind rund 29 Millionen Menschen in beiden Ländern betroffen, etwa die Einwohnerzahl der Metropolen Istanbul, New York, Paris und Berlin zusammen.
Die Region kommt unterdessen noch immer nicht zur Ruhe. Am Samstag traf ein Beben der Stärke 5,2 die zentralanatolische Provinz Niğde in der Türkei, wie die Erdbebenwarte Kandilli mitteilte. Das Epizentrum lag demnach im Bezirk Bor.
Von syrischen Stellen wurden innerhalb von 24 Stunden insgesamt mehr als 60 Nachbeben erfasst, wie das Erdbebenzentrum des Landes am Samstag mitteilte. Die Phase der Nachbeben könne noch zwei Jahre andauern, hieß es von der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad. Auf die Hauptbeben am 6. Februar folgten demnach bereits mehr als 9000 Nachbeben.
Sicherheit vor Ort
In der syrischen Hauptstadt Damaskus landeten am Wochenende die ersten zwei Flugzeuge mit Hilfsgütern als Teil einer humanitären Luftbrücke. Sie lieferten unter anderem winterfeste Zelte, Ausrüstung für Unterkünfte und Heizgeräte, wie die EU-Kommission am Sonntag mitteilte. Weitere Flüge sollen folgen. Sie liefern Hilfe aus EU-Lagern in Dubai sowie Brindisi in Italien für die Bevölkerung sowohl in den von der Regierung kontrollierten als auch in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten.
Für die türkische Metropole Istanbul ist die Erdbeben-Katastrophe im Süden des Landes auch eine Mahnung: Experten halten ein Beben dort mit einer Magnitude von bis zu 7,4 für überfällig. Nötig sei ein schnelles Bauprogramm für mehr Erdbebensicherheit im Wert von etwa 30 bis 40 Milliarden Dollar, sagte Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu am Samstag. „Der Betrag ist dreimal so hoch wie das Jahresbudget der Stadt Istanbul, aber wir müssen bereit sein, bevor es zu spät ist.“
Die Region Istanbul ist Teil des Nordanatolischen Verwerfungssystems, einer großen tektonischen Plattengrenze, die für zerstörerische Erdbeben mit vielen Opfern bekannt ist. In der Megacity leben nach offiziellen Angaben 16 Millionen Menschen, nach inoffiziellen Schätzungen sogar 20 Millionen. Es gebe rund 1,6 Millionen alte, nicht erdbebensicher gebaute Gebäude, hatte Nusret Suna von der Istanbuler Bauingenieurskammer kürzlich gesagt.
Zerstörung bewusst in Kauf genommen?
Die Behörden hätten versäumt, alte Häuser erdbebensicher zu sanieren, hatte Suna kritisiert. Und selbst nach 1999 gebaute Gebäude seien trotz seither geltender Regularien oft nicht sicher, weil diese aus Profitgier häufig missachtet würden. Mit entsprechend katastrophalen Folgen sei bei einem starken Beben für Istanbul zu rechnen.
Der türkische Justizminister Bekir Bozdağ teilte am Samstag mit, dass mindestens 184 Menschen unter Verdacht fahrlässigen Handelns in Bezug auf bei den Erdbeben eingestürzte Gebäude festgenommen worden seien. Etliche Gebäude in der betroffenen Region im Südosten des Landes waren nicht erdbebensicher gebaut worden. Kritik wurde laut, die Einhaltung geltender Baustandards sei oft nicht kontrolliert worden.
Unzählige Gebäude hatten den verheerenden Erdbeben von Anfang Februar nicht standgehalten. Nach Angaben der türkischen Regierung wurden mehr als 173.000 Gebäude in 11 Provinzen des Landes zerstört. Fast zwei Millionen Menschen hätten ihr Obdach verloren. Mit dem Wiederaufbau von Häusern wurde inzwischen begonnen.
Hilfe auch in Deutschland
Deutschland hat unterdessen für Erdbebenopfer aus der Türkei und Syrien von Mitte Februar bis Freitag Hunderte Visa ausgestellt. Dabei handele es sich um 429 Schengen-Visa für Aufenthalte bis zu 90 Tagen sowie 99 Visa für den dauerhaften Aufenthalt in Deutschland im Rahmen des Familiennachzugs, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Samstag).
Die Bundesregierung hatte das Verfahren nach der Naturkatastrophe angekündigt. Betroffene aus Syrien und der Türkei sollen so die Möglichkeit haben, zeitweilig bei Angehörigen in Deutschland unterzukommen. Das Vorhaben wurde teils kritisiert, weil trotz des Versprechens eines unbürokratischen Verfahrens zum Beispiel ein gültiger Pass und ein biometrisches Foto benötigt werden. (dpa/il)
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