Ungarn-Flüchtlinge: Wir gehen nach Deutschland – auch zu Fuß
Gemeinsam mit ihm rufen sie immer wieder: „Steht auf, steht auf, lasst uns zu Fuß nach Deutschland gehen.“ Grob geschätzt jeder Fünfte der rund 3000 Männer, Frauen und Kinder, die hier im Budapester Ostbahnhof gestrandet sind, folgt am Ende dem Aufruf. Fünf Stunden später sind etwa 600 Flüchtlinge als Fußgänger unterwegs auf der Autobahn Richtung Wien.
„Warum tut man uns das an, warum hilft uns keiner?“, fragt Amina Hmeid. Die alte Frau packt ihre letzten Habseligkeiten in einem Tuch eingewickelt auf den Kopf. Sie kommt aus Daraa in Syrien, der Stadt, in der vor rund viereinhalb Jahren der Aufstand gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad begann.
Am Mittag ging alles ganz schnell, als sich der Treck in Bewegung setzte. „Los, pack die Decken zusammen und lass den Rest da“, ruft am Budapester Ostbahnhof ein bulliger Syrer seiner Ehefrau zu. Doch Schesud Chodeirallawi zögert.
Die 22-jährige Mutter aus Deir ez-Zor hat zwei kleine Kinder. Sie ist im neunten Monat schwanger. „Los, worauf wartest Du?“, ruft ihr Mann. „Es gibt keinen anderen Weg.“ Dann packt seine Frau ihre Tochter Hala bei der Hand und marschiert los. „Was soll ich sonst tun?“, fragt sie. „Sie lassen uns doch nicht mit dem Zug nach Österreich fahren.“ Und: „Wer in den Zug steigt, der wird von den Ungarn in ein Lager gebracht und kommt da nie wieder raus.“
In Ungarn bleiben – das wollen weder die syrischen Kriegsflüchtlinge, die hier campieren, noch die Afghanen, Albaner und Iraker, die in den Unterführungen und Gängen dieses Fernbahnhofs ihre Decken ausgebreitet haben.
Warum sie nach Deutschland wollen? Nun, Schesud Chodeirallawi hat von anderen Flüchtlingen gehört, die dort angekommen sind. „Sie sagen, dort wird man besser behandelt, man bekommt ein Dach über dem Kopf und genug Geld, um zu leben.“
Die Familie Chodeirallawi war nicht arm, als vor mehr als vier Jahren der Krieg in Syrien begann, der etwa die Hälfte der Bevölkerung des arabischen Landes entwurzelt hat. „Unser Haus wurde von einer Rakete getroffen. Glücklicherweise waren wir da schon in einem sichereren Viertel untergekommen“, sagt die junge Mutter.
In Syrien hätten sie und ihre Familie dreimal die Stadt gewechselt – Damaskus, Al-Rakka, Al-Majadien – immer dann, wenn die Angriffe heftiger wurden, zogen sie weiter. Weshalb sie sich schließlich zur Flucht nach Europa entschlossen haben? „Weil ich irgendwann einfach keine Hoffnung mehr hatte, dass es in Syrien eine Lösung geben wird für uns und unser ganzes Elend“, sagt sie.
Mit einem Schlepper seien sie deshalb über die grüne Grenze in die Türkei gegangen – vor 20 Tagen, erzählt sie. Ihre nächste Station war Izmir im Westen der Türkei. Mazedonien, Serbien – es ist die klassische Odyssee, die fast alle Syrer hinter sich haben, die jetzt versuchen, von Ungarn nach Deutschland oder Schweden zu gelangen.
Vor dem Bahnhof hat sich inzwischen ein Tross von einigen Hundert Menschen formiert. Es sind fast nur junge Männer. Sie wollen zu Fuß zur österreichischen Grenze marschieren – grob geschätzt sind das 170 Kilometer.
Sie sagen, andere Transportmöglichkeiten gebe es nicht. „Wenn ich einen Fahrschein für den Bus kaufen will, dann fragt der Fahrer nach meinem Pass, und wenn er sieht, dass ich Syrer bin, dann verkauft er mir kein Ticket“, sagt Hassaan al-Ibrahim. „Merkt die ungarische Regierung denn nicht, dass sie mit solchen Maßnahmen das Geschäft der Schleuser befördert?“ Der junge Syrer redet sich in Rage. „700 Euro forderten die Menschenschmuggler bis Wien pro Person“, sagt er. Um ihn herum bildet sich eine Menschentraube. Um die Männer herum laufen junge Ungarn. Sie verteilen Obst und Windeln an die Flüchtlinge.
„Warum holt uns die deutsche Regierung nicht einfach hier ab?“, fragt ein älterer Syrer, der zwei Jahre in einem Flüchtlingslager in Jordanien gelebt hat. „Ich denke, sie will uns helfen“, fügt er hinzu. Was ihn ärgert, ist, dass sich nun auch Menschen anderer Nationalitäten als Syrer ausgeben, um Unterstützung zu erhalten. Er sagt: „Jeder sagt hier „I am Syrian“.“ Dann hebt er seine Plastiktüte auf und zieht weiter gen Westen – zu Fuß.
(dpa)
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