Ukraine: Männer fliehen vor gewalttätigen Zwangsrekrutierungen

Videos von ukrainischen Rekrutierungsbeamten gingen im Internet viral, in denen sie Männer auf der Straße schlagen und in Fahrzeuge zerren.
Titelbild
Vor der Rekrutierungsstelle der 4. Brigade in Kiew am 4. Juli 2024.Foto: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images
Von 27. Oktober 2024

Die Ukraine benötigt dringend mehr Soldaten an der Front. Das ist ein Problem, das Kiew immer schwerer zu lösen vermag. Das könnte die Behörden veranlassen, verstärkt zu gewaltsamen Lösungen zu greifen.

Zumindest deuten das einige Videos an, die auf Telegram gepostet wurden. Auf den Straßen mehrerer ukrainischer Gemeinden wurden Szenen aufgenommen, die maskierte, bewaffnete Rekrutierungsbeamte zeigen, die auf der Jagd nach Männern im wehrfähigen Alter zu sein scheinen.

Derzeit unterliegen ukrainische Männer, die zwischen 25 und 60 Jahre alt sind, der Wehrpflicht.

Nach Presseberichten waren Kiew, Chmelnyzkyj, Charkiw, Odessa, Lemberg (Lwiw) und Ungwar (Uschhorod) von Zwangsrekrutierungen betroffen. Diese Aktionen sollen auch Todesopfer zur Folge gehabt haben.

Viele Männer in der Ukraine denken nun darüber nach, zu fliehen oder dem Dienst um jeden anderen Preis zu entgehen.

Zunehmende Gewalt sorgt für Kritik

In der auch von vielen Ungarn bewohnten Provinzhauptstadt von Transkarpatien, Uschhorod, wurden in den vergangenen Wochen Männer direkt aus dem Stadtzentrum mitgenommen. Einige wurden nach Berichten der ungarischen Presse sogar mit Elektroschocks zum Einsteigen in Busse gezwungen.

In Lemberg wurden von den Behörden Stripklubs besucht. In Charkiw gingen sie in Nachtklubs. In Kiew wurden Menschen, die nach einem Konzert der populären Band Okean Elzy nach Hause wollten, mitgenommen. Der Vorfall wurde auch von „Radio Free Europe“ (RFE) berichtet.

Die Aufnahmen des Zusammenstoßes zwischen Rekrutierern und Bürgern haben sich dem Bericht zufolge weitverbreitet und sorgten für lautstarke Kritik an den Methoden, mit denen die Zahl der Soldaten an der Front erhöht werden soll.

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Kürzlich schlugen angeblich Rekrutierer einen jungen Mann in Odessa so schwer, dass er dabei umkam. Die Aufnahmen deuten darauf hin, dass er möglicherweise epileptisch war. Passanten, die ihm zu Hilfe kamen, versuchten, seine Zunge zu fixieren. Berichten zufolge starb der Mann später im Krankenhaus.

Dieses Phänomen scheint es schon länger zu geben. Laut einem Bericht von „Radio Free Europe“ von März 2023 handelt es sich nach Angaben der Behörden jedoch um Einzelfälle. Ein Anwalt der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee berichtete damals, dass es „eine ganze Reihe“ von Gerichtsverfahren gegen Rekrutierungszentren gibt.

Keine Zeit, Fragen zu stellen

Einem Bewohner von Charkiw, der jetzt in Lemberg lebt, gelang es, nach seiner Verschleppung (und Freilassung) ein Video zu drehen. In dem Video berichtet er, wie er von Militärkommissaren festgehalten und geschlagen wurde, obwohl er Student sei und somit ein Aufschubrecht habe.

Am 8. Oktober sei er vom TCC (Territoriales Zentrum für Rekrutierung und soziale Unterstützung) und Polizeibeamten auf der Straße angehalten worden. Niemand habe sich vorgestellt oder einen Ausweis gezeigt. „Ich habe alle meine Dokumente vorgelegt, einschließlich meines Studentenausweises. Mit der Begründung, ich müsse erst die Behörde aufsuchen, setzten sie mich in einen Bus und brachten mich zum ORVK Galizien-Frankiwsk“, so der junge Mann. Er stieg in den Bus ein, in dem Glauben, dass er dann sagen könne, er sei Student, und man ihn dann gehen lassen würde. Aber er hatte keine Zeit, etwas zu sagen.

Die Rekrutierer versuchten, das Handy des jungen Mannes abzunehmen. Als er sich weigerte, schlugen sie ihm auf den Kopf. „Dann sagte ich zu ihnen, dass ich ein Student bin. Die Rhetorik änderte sich sofort“, sagte er. Obwohl von da an keine Gewalt mehr angewendet wurde, versuchten sie ihn zu überzeugen, über den Vorfall zu schweigen.

Von den 13 Personen, die mit ihm verhaftet wurden, wurde nur der Student freigelassen. „Die anderen wurden am Morgen zum Militärtraining gebracht“, sagte er. Der TCC habe sich nicht zu dem Vorfall geäußert.

Ukrainischer Exilpolitiker warnt Männer vor Gewalt der Behörden

Der ukrainische Politiker Artem Dmitruk, der ursprünglich der Partei von Wolodymyr Selenskyj angehört hatte, äußerte sich zum Thema Zwangsrekrutierung. In einem Beitrag vom 13. Oktober schrieb er: „Das Präsidialamt hat einen klaren Befehl erteilt: entschlossen zu handeln, um das richtige Ergebnis zu erzielen. Alle müssen gefasst werden.“ Laut Dmitruk werden Bescheinigungen, Zeugnisse, Aufschübe, Behindertenpapiere und dergleichen „nicht mehr funktionieren“. Jeder wird ins Militärhauptquartier gebracht. Und dort wird entschieden, was „dein Schicksal“ sein soll.

Dmitruk warnte auch, dass alle, die über die Geschehnisse in den sozialen Medien schreiben oder sprechen, beobachtet werden. Der Politiker rät allen Männern, die die Möglichkeit dazu haben, zu Hause zu bleiben. „Geh nicht in Fitnessstudios und auf öffentliche Plätze. Zudem denken sie ohnehin schon daran, in eure Häuser zu gehen, um euch zu schnappen“, schrieb er.

Seine Kommentare wurden außerhalb der Ukraine verfasst, da er das Land verlassen hat. In der Ukraine wird er unter anderem beschuldigt, einen Soldaten und einen Angehörigen der Ordnungskräfte angegriffen zu haben. Dmitruk weist die Anschuldigungen zurück und brachte seine Taten mit seiner „staatsmännischen Haltung, seinen politischen Ansichten und seiner Verteidigung des orthodoxen Glaubens“ in Verbindung, wie die ungarische Presse berichtete.

Die „Pflicht“ eines jeden ukrainischen Mannes

Während auf Telegram die Aufnahmen von Zwangsrekrutierungen auch von Armeeangehörigen geteilt wurden, sind die dort vertretenen Auffassungen anders. In dem Video wird ein junger Mann in Kiew nach einem Konzert verschleppt. Der Mann protestiert und schreit, während die Passanten um ihn herum geschockt zu sein scheinen.

Der stellvertretende Kommandeur der dritten Sturmbrigade der ukrainischen Streitkräfte, Maxim Zhorin, äußert sich folgendermaßen: „Eine faire Mobilisierung sieht genau so aus – wenn nicht nur Menschen aus Dörfern und Kleinstädten geholt werden, sondern auch aus Großstädten, wo die Menschen in Ruhe auf Konzerte gehen. Es kann nicht sein, dass ein Teil des Landes das dritte Jahr lang kaputt gemacht wird, während der andere Teil sein Leben lebt und sich über die Rekrutierungen ärgert.“

RFE hat mehrere Bürger über die Zwangseinberufung interviewt. Ein Einwohner von Tschernihiw stimmte zum Beispiel zu. „Ich habe seit 2015 [in der Armee] gedient. Ich habe an zwei Kriegen teilgenommen. Also denke ich, es ist die Pflicht eines jeden ukrainischen Mannes.“

Für andere geht es eher um die Methoden. „Einerseits scheint es, dass wir unsere Armee verstärken müssen. […] Andererseits gefällt mir nicht, die Art und Weise, wie sie es tun“, sagte eine Frau.

Die Kampfbereitschaft wird Berichten zufolge jedoch dadurch auch erheblich gedämpft, dass es keinen sichtbaren Ausweg aus den Reihen der Armee gibt, wenn jemand einmal dabei ist. Egal, wie erschöpft sie körperlich oder geistig sind, Soldaten dürfen die Armee nicht verlassen, es sei denn, ein militärmedizinischer Ausschuss stellt fest, dass sie nicht mehr diensttauglich sind.

Ihre Kommandeure können sie aus familiären oder medizinischen Gründen für maximal 30 Tage pro Jahr beurlauben. In der Praxis gibt es, wie unter Armeeangehörigen gesagt wird, nur zwei Möglichkeiten, die Armee zu verlassen: Tod oder Verletzung, heißt es in dem Report von RFE.

Mangelnder Rechtsschutz, mangelnde Wehrtauglichkeit

Rostyslav Kravets, ein Anwalt und Leiter der Stiftung der unabhängigen Juristen der Ukraine, gab RFE seine Meinung zu der Gewaltanwendung während Rekrutierungen. Kravets meint, dass Militärrekrutierer kein Recht haben, Männer festzuhalten oder sie gewaltsam zu Rekrutierungszentren zu bringen.

„Aber die Rekrutierer tun das ständig, um zu zeigen, dass sie effektiv sind, während sie sich gleichzeitig durch Korruption bereichern“, sagte Kravets.

Das ukrainische Mobilisierungsgesetz, das im vergangenen Frühjahr verabschiedet wurde, hat die Befugnisse der Rekrutierungszentren erweitert. Aber es sorgte nicht dafür, dass die Rekrutierten mehr Kontrolle über den Prozess haben. Somit sei der Rechtsschutz der betroffenen Männer gefährdet. Ursprünglich konnten Vorladungen an eine Wohnadresse zugestellt werden; jetzt können sie ohne geografische Einschränkungen ausgestellt und von mehreren Beamten verteilt werden, laut RFE.

Auch die Wehrtauglichkeit der mit Gewalt eingezogenen Soldaten könnte ein Problem darstellen, wie ein Artikel in der „Financial Times“ beschreibt. Ukrainische Militärexperten erklärten dort, dass 50 bis 70 Prozent der angeworbenen neuen Soldaten innerhalb weniger Tage nach ihrem ersten Einsatz sterben oder verletzt werden.

Ein ukrainischer Kommandeur berichtete, dass er und seine Truppen ein Dorf in der Nähe von Pokrowsk über längere Zeit verteidigt haben. Sie waren jedoch extrem müde und wurden zur Erholung abgezogen. Bis auf zwei Ausnahmen waren alle neu eingesetzten Soldaten über 40 Jahre alt und hatten keine militärische Erfahrung. Sie wurden alle innerhalb einer Woche getötet oder verwundet, und das russische Militär besetzte daraufhin das Dorf.

Die Ausbildung von neuen Soldaten dauert in der Regel 60 Tage. Ein Ausbilder der ukrainischen Armee teilte dem ungarischen Nachrichtenportal „Valasz“ mit, dass ein Schütze eigentlich eine Ausbildung von sechs Monaten benötige und neu eingezogene Soldaten nach den ersten vier Wochen oft noch nicht einmal die Grundlagen des Umgangs mit Waffen beherrschten.

Selenskyj: Die Armee ist in einer „sehr, sehr schwierigen“ Situation

Präsident Selenskyj hat wiederholt auf die „sehr, sehr schwierige“ Situation der Armee hingewiesen. Die ukrainische Regierung hat auch versucht, das Problem durch das Einziehen von Gefangenen zu lösen. Infolgedessen haben sich in diesem Jahr etwa 5.000 Häftlinge zur Armee gemeldet, um ihren Strafen zu entgehen. Außerdem hat Selenskyj im April das Wehrpflichtalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt.

Auch in hochrangigen Ämtern scheint es jedoch nicht allzu viel Bereitschaft zum Kämpfen zu geben. Dort gibt es allerdings das Problem des Ausstellens falscher Bescheinigungen. Diese Woche trat der ukrainische Generalstaatsanwalt Andriy Kostin zurück, nachdem Untersuchungen ergeben hatten, dass Dutzende Regierungsbeamte vom Militärdienst befreit worden waren, weil sie Behindertenleistungen beansprucht hatten.

Die ukrainische Führung versucht, die Probleme der Rekrutierung zu verbessern. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft insgesamt 112 Strafverfahren gegen Vertreter von Rekrutierungsagenturen wegen illegaler Handlungen eingeleitet, von denen 33 als Ordnungswidrigkeiten eingestuft und 15 strafrechtlich verfolgt wurden. Selenskyj ordnete zudem die Entlassung aller regionalen Rekrutierungsbeauftragten an, da es bei der Rekrutierung immer wieder zu Korruptionsfällen kam. Denn viele Menschen ziehen es vor, eher hohe Summen zu zahlen, um nicht an die Front gehen zu müssen.

Andere machen sich auf die Flucht, was in Tragödien enden kann. Seit der Ausrufung des Kriegszustandes dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nur noch in Ausnahmefällen verlassen. Viele versuchen trotzdem, die Grenze zu überqueren. Eine der beliebtesten Fluchtrouten ist das Maramuresch-Gebirge Richtung Rumänien, das sich bis zu 2.000 Meter über den Meeresspiegel erhebt, und die über schnell fließende Theiß. Bis zum Ende des Sommers wurden allein auf der rumänischen Seite 24 Leichen von ukrainischen Grenzgängern in den Bergen oder an den Ufern des Flusses gefunden und laut ukrainischer Presse seien allein in der Theiß 29 Flüchtlinge ertrunken. Viele werden jedoch von der Grenzpolizei gefasst.

 

 

 



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