Tusk sieht „Vorkriegszeit“ in Europa – und stellt EU-Migrationspakt infrage

In einem Interview hat Polens Premier Tusk von einer „neuen Ära“ in Europa gesprochen, die eine „Vorkriegszeit“ sei. Er äußerte Genugtuung darüber, dass Deutschland und Frankreich auf den antirussischen Kurs Polens und der Balten eingeschwenkt seien.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 30. März 2024

Innenpolitische Spannungen, Bauernproteste, Säuberungsaktionen in Medien und Justiz, Spannungen in der heterogenen Koalition – Polens Premierminister Donald Tusk befindet sich 100 Tage nach seinem Amtsantritt in keiner beneidenswerten Situation. Das EU-weit konsensfähige Feindbild Russland kommt ihm in dieser Situation zugute.

In einem Interview mit der „Welt“ äußerte Tusk, dass in Europa „eine neue Ära begonnen hat: die Vorkriegszeit“. Zuvor hatte er behauptet, Russlands Präsident Wladimir Putin habe mit Blick auf das Massaker vom 22. März in Krasnogorsk „bereits damit begonnen, die Ukraine für die Vorbereitung dieses Anschlags verantwortlich zu machen“.

Tusk beschuldigt Putin, ukrainische Terrorbeteiligung zu konstruieren

Tatsächlich hatte Putin nicht in Zweifel gezogen, dass dschihadistische Terroristen hinter dem Terrorakt stehen. Allerdings hatte er auch erklärt, es werfe Fragen auf, warum die mutmaßlichen Terroristen im Begriff gewesen seien, in die Ukraine zu flüchten. Er äußerte zudem die Vermutung, es könnte ein „Fenster“ an der Grenze zur Ukraine für die Flucht vorbereitet worden sein.

Russische Sicherheitskräfte hatten vier aus Tadschikistan stammende, mutmaßlich direkt an dem Massaker in der Crocus Concert Hall beteiligte Personen auf einer Fernstraße gefasst. Diese führt in Richtung Ukraine. Kilometermäßig wäre für die flüchtenden Terroristen die Grenze zu Belarus vom Tatort aus näher gewesen.

Allerdings hätten die russischen Sicherheitskräfte dort auf uneingeschränkte Rechtshilfe zählen können. Zur Ukraine bestehen jedoch kriegsbedingt keine diplomatischen Beziehungen – und auch keine intakte Rechtshilfe.

„Für Polen ist Krieg keine Abstraktion mehr“

Tusk sieht in Putins Äußerungen zu möglichen Verbindungen der Terroristen in die Ukraine einen Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen:

„Offensichtlich hat er das Bedürfnis, die zunehmend gewaltsamen Angriffe auf zivile Objekte in der Ukraine zu rechtfertigen.“

Der polnische Premierminister erklärte, er wolle „niemandem Angst machen, aber Krieg ist kein Konzept mehr aus der Vergangenheit“. Er habe bereits vor mehr als zwei Jahren begonnen. Es sei derzeit „am beunruhigendsten, dass buchstäblich jedes Szenario möglich ist“. Eine Situation wie die heutige sei seit 1945 nicht mehr da gewesen.

Auf die Aufforderung seines spanischen Amtskollegen Pedro Sánchez, das Wort „Krieg“ nicht zu verwenden, um die Menschen nicht zu beunruhigen, äußerte er:

„Ich sagte ihm, dass in meinem Teil Europas der Krieg keine Abstraktion mehr ist – und es unsere Pflicht ist, nicht zu diskutieren, sondern uns auf die Verteidigung vorzubereiten.“

Mitte der 2000er sah sich Tusk noch allein mit den Balten

Tusk äußerte hingegen „Genugtuung“ darüber, dass sich seit seiner ersten Amtszeit als Premier in den 2000er-Jahren „eine echte Revolution in der europäischen Mentalität“ vollzogen habe. Mit der Beschwörung einer vermeintlichen russischen Bedrohung sei er damals EU-weit mit den baltischen Staaten allein gewesen. Noch 2009 sei eine „Sicherheitspartnerschaft bis Wladiwostok“ angedacht gewesen.

Mittlerweile „wetteifern CDU und SPD darum, wer von ihnen proukrainischer ist“, und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeige „Entschlossenheit, einer der Anführer der Anti-Putin-Front in Europa zu werden“.

Was die Aufrüstung anbelangt, müsse Europa „in Verteidigungsfragen autarker“ werden. Dies gelte unabhängig davon, ob der künftige US-Präsident Donald Trump oder Joe Biden heiße. Es gehe „nicht darum, Parallelstrukturen zu den USA zu schaffen“. Man werde jedoch selbst „ein attraktiverer Partner für die USA sein, wenn wir in Verteidigungsfragen autarker sind“. Die transatlantischen Beziehungen sollten unabhängig vom Wahlausgang gepflegt werden.

Russland und Belarus „benutzen Migration als Druckmittel“

Angesichts eines steigenden Zustroms von Migranten von Belarus aus an die polnische Grenze stellt Tusk unterdessen den erst im Dezember beschlossenen Migrationspakt der EU infrage. Die Präsidenten Putin und Lukaschenko würden die Migrationsbewegungen „nicht nur organisieren, sondern auch als Druckmittel benutzen“.

Er werde zwar, so Tusk, „einige der von den polnischen Grenzschützern angewandten Methoden nicht rechtfertigen“. Allerdings sei es „die Aufgabe des Staates, seine Grenzen und sein Territorium wirksam zu schützen“ – was „vor allem in Anbetracht aller Aspekte der russischen hybriden Aktivitäten“ gelte.

NGOs wie die Human Rights Watch berichten von Pushbacks gegen Asylbewerber vonseiten polnischer Grenzschützer. Auf beiden Seiten seien Migranten zudem Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt. Ein faires Asylverfahren, wie es die Genfer Konvention vorschreibt, findet vielfach nicht statt. Tusk nannte die Pushbacks „als Methode moralisch inakzeptabel“. Man müsse „eine bessere Lösung finden, aber die Alternative kann nicht Hilflosigkeit sein“.

 



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