Teilmobilmachung sorgt für Talentflucht aus Russland

Hunderttausende Russen entzogen sich seit dem 21. September ihrer Einziehung. Die meisten von ihnen sind gut ausgebildet und jung.
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Einberufene junge Männer warten auf ihre Abreise. Im Hintergrund ist ein Wandbild mit drei Soldaten zu sehen, die Armbinden mit dem Z-Symbol tragen. 16. Oktober 2022 in Moskau.Foto: YURI KADOBNOV/AFP via Getty Images
Von 23. Oktober 2022

Kilometerlange Staus und Wartezeiten von mehr als 24 Stunden – dieses Bild bot sich vom 21. September bis Anfang Oktober an den südlichen Grenzübergängen Russlands. Hunderttausende junge Menschen flohen vor der Teilmobilmachung im eigenen Land.

Die Preise für Flugtickets in visumfreie Staaten (Armenien, Kasachstan, Georgien, Türkei, Kirgisistan, Israel) stiegen für russische Staatsbürger schon wenige Stunden nach der Ankündigung ins Unermessliche. Sie waren aber trotzdem innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Deshalb blieb vielen, die das Land verlassen wollten, nur die Fahrt zur Grenze. Vor allem zwei ehemalige Sowjetrepubliken und direkte Nachbarstaaten Russlands wurden zum unmittelbaren Ziel: Kasachstan und Georgien.

Russische „Relokanten“ in Kasachstan

Russland und Kasachstan teilen eine 7.600 Kilometer lange Grenze mit 17 Grenzübergängen. Entsprechend groß war auch der Andrang mit Wartezeiten von bis zu 56 Stunden. Die Preise für Taxis stiegen ebenfalls sofort stark an: Viele Russen zahlten für eine Fahrt zur Grenze von 10.000 bis 100.000 Rubel (160 bis 1.600 Euro) per Sitzplatz.

Die Preise für Wohnungen und Hotels in den Städten erhöhten sich mit der Ankunft der „Relokanten“, wie die neuen russischen Migranten in Kasachstan genannten werden, um das Doppelte oder Dreifache.

„Die Leute haben das Gefühl, dass fast nur Millionäre hierherkommen, die Geld wie Heu haben“, kommentierte der kasachische Finanzanalytiker und Wirtschaftswissenschaftler Arman Bejsembajew die Entwicklung in einer Reportage auf dem Youtube-Kanal der russischen Oppositionellen Xenija Sobtschak.

Vor Banken bildeten sich lange Schlangen. Da russische Banken internationalen Sanktionen unterliegen, funktionieren russische Bankkarten außerhalb Russlands nicht.

Insgesamt überquerten seit der Ankündigung der Teilmobilmachung rund 200.000 russische Staatsbürger die russisch-kasachische Grenze, teilte das kasachische Innenministerium laut dem russischen Nachrichtenportal „Gazeta“ mit. Fast 150.000 von ihnen verließen das Land wieder. (Stand 4. Oktober)

Folgen der Teilmobilmachung

Der kasachisch-russische Grenzübergang Syrym/Maschtakowa am 27. September 2022. Auf der russischen Seite (im Hintergrund) ist eine lange Autoschlange zu sehen. Foto: STRINGER/AFP via Getty Images

Unter ihnen waren auch Hunderte Bewohner der Krim. Sie versammelten sich vor der ukrainischen Botschaft in Astana, um ihre ukrainische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen und so der Einberufung zu entkommen.

Laut Iwan Almaschi, ukrainischer Konsul in Kasachstan, sei in diesem Zusammenhang bei Menschen von der Krim nicht die aktuelle Staatsbürgerschaft ausschlaggebend. Solange sie einen ukrainischen Pass besitzen, auch wenn er abgelaufen sei, registriere er sie als ukrainische Staatsbürger, sagte er dem Fernsehsender „Current Time“, einem Tochtersender von „Voice of America“.

Teilmobilmachung verursacht „zweite Migrantenwelle“

Im Gegensatz zu Kasachstan hat Georgien nur einen einzigen Grenzübergang mit Russland – alle anderen wurden nach dem Einmarsch Russlands in Südossetien im Jahr 2008 geschlossen. Von Beginn der Teilmobilmachung bis Anfang Oktober wurden dort etwa 53.000 russische Staatsbürger registriert. Wegen des Andrangs bildeten sich kilometerlange Staus.

Da der Grenzübergang in den ersten Tagen nach der Teilmobilmachung für Fußgänger geschlossen war, nutzen viele Menschen Fahrräder, Roller oder Rollschuhe, um auf Rädern über die Grenze zu gelangen. Die Preise für diese „Fahrzeuge“ stiegen deshalb exponentiell an. Viele kauften Roller oder Fahrräder in Geschäften auf und verkauften sie für horrende Summen an der Grenze.

Auch die russischen Rekrutierungsbüros nutzten die langen Wartezeiten: Mehr als 180 junge Männer, die eine Vorladung erhalten hatten oder im System als Reservierten aufgeführt sind, wurden an der Grenze abgefangen. Das teilte der stellvertretende Militärkommissar der Grenzregion Nordossetien der russischen Nachrichtenagentur „Interfax“ mit.

In den Großstädten Georgiens bot sich ein ähnliches Bild wie in Kasachstan: Lange Schlangen vor Banken und stark ansteigende Mietpreise. Diese Entwicklung begann aber schon am 24. Februar mit dem Start der „Spezialoperation“, wie der Ukraine-Krieg offiziell in Russland genannt wird. Tausende russische Bürger reisten damals in das kaukasische Land.

Insgesamt kamen seit dem 24. Februar 350.000 russische Staatsbürger nach Georgien. Es gibt jedoch keine Zahlen darüber, wie viele Russen das Land in den Sommermonaten als Touristen besuchten. Auch ist unklar, wie viele von ihnen das Land zur Weiterreise in andere Staaten nutzten.

Andere beliebte Ziele

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs kamen mehr als 300.000 russische Staatsbürger nach Armenien. Auch Kirgisistan ist ein beliebtes Ziel: Nach kirgisischen Angaben kamen seit Februar rund 180.000 russische Bürger ins Land, etwa 30.000 davon seit Ende September. Ein anderer begehrter visumfreier Staat ist Usbekistan, in den seit dem 21. September etwa 40.000 Russen reisten.

Einige Tausend russische Bürger fuhren oder flogen auch in die Türkei und die Mongolei. Alle genannten Zahlen sind Schätzungen, da die oben aufgeführten Länder keine genauen Statistiken führen. Es ist deshalb unklar, wie viele russische Staatsbürger nur für Urlaubs- oder Geschäftszwecke einreisten oder die Staaten als Transitländer nutzten.

Bis zum 30. September war auch Finnland ein beliebtes Ziel: Seit dem 21. September reisten rund 60.000 Menschen aus Russland ein, etwa 36.000 verließen das Land wieder, wie Pawel Kuznizow, russischer Botschafter in Finnland, angab. Der Ansturm wäre größer gewesen, hätte Finnland die Einreise für Russen, die ein Touristen- oder Schengenvisum besitzen, nicht verboten.

„Braindrain“ aus Russland

Seit Februar verließen also geschätzt über eine Million russische Staatsbürger das Land. Die meisten von ihnen sind jung, gut ausgebildet und männlich. Wie in vielen Reportagen aus Georgien und Kasachstan zu sehen ist, sind viele russische Migranten IT-Spezialisten, Medienschaffende und Geschäftsleute.

Viele russische Unternehmer befürchten, dass im Zuge der Teilmobilmachung die Grenzen geschlossen werden. Das sagte der russische Geschäftsmann Iwan Kutil in einer Reportage von „Redakcija“ – einem YouTube-Kanal des russischen Journalisten Alexej Piwowarow – über russische Migranten. Dadurch würde es unmöglich, internationale Geschäftsbeziehungen aufrechtzuerhalten, was Firmen in den Ruin treiben werde.

Im Fachjargon heißt eine solche Talentflucht „Braindrain“. Negative Folgen für die russische Wirtschaft seien vorprogrammiert, analysierte der russische Demograf Alexej Rakscha gegenüber der russischen Tageszeitung „Novyje Iswestija“.

„Die Besten werden aus Russland hinausgetrieben“, meint dazu der kasachische Wirtschaftswissenschaftler Arman Bejsembajew. Während vor dem 24. Februar viele talentierte Menschen aus Kasachstan in Russland arbeiteten oder studierten, sei ab dem Ukraine-Krieg der gegenteilige Effekt eingetreten. „Das, was vor dem 24. Februar die Grundpfeiler Russlands gewesen waren, werden wir jetzt nutzen, hoffe ich“, fügte der kasachische Analytiker hinzu.

Ansturm an der Grenze ist vorerst beendet

Die Abwanderung junger Männer ist nicht nur schlecht für die Wirtschaft, sondern auch für die Demografie, merkte der Demograf Rakscha im Artikel von „Novyje Iswestija“ weiter an. Das werde sich in neun Monaten in einer niedrigeren Geburtenrate widerspiegeln, so der Demograf.

Doch es gebe auch einen Hoffnungsschimmer: die fast drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine. Es sind meistens Frauen, Kinder und Ältere – also größtenteils keine erwerbsfähige Bevölkerung. Das werde zwar den Sozialhaushalt belasten, aber gleichzeitig sei „eine solche Anzahl an Frauen vorteilhaft für die Demografie“, fügte Rakscha hinzu. Der Bevölkerungsforscher erwähnte jedoch nicht, dass viele russische Frauen und Kinder ihren Männern künftig wahrscheinlich ins Ausland nachfolgen werden – wodurch die Vitalität Russlands weiter abnehmen wird.

Wie viele der jungen Menschen später wieder nach Russland zurückkehren, kann noch nicht vorausgesagt werden. Der Ansturm an der Grenze ist zumindest vorerst vorbei.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 67, vom 22. Oktober 2022.



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