Syrien: Wer kontrolliert was nach dem Sturz von Assad?
Wenige Tage nach der Einnahme der Hauptstadt Damaskus durch streng-islamische Rebellenmilizen unter der Führung der Gruppe von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat in Syrien ein Übergangsprozess begonnen. Ob es nach dem Sturz des Regimes des Assad-Clans nach mehr als einem halben Jahrhundert zu einer friedlichen Neuordnung in Syrien kommen wird, ist ungewiss. Allerdings sind auch Verantwortungsträger der Regierung Assad selbst an dem Prozess beteiligt, und es befinden sich auch noch ausländische Streitkräfte im Land.
Syrien vor umfassender Neuorganisation
Die Rebellen verhalten sich nach ihrer Machtübernahme bislang diszipliniert. Der gestürzte Präsident Baschar al-Assad konnte zusammen mit engen Familienmitgliedern sicher nach Russland ausreisen. Das deutet auf eine diplomatische Vorbereitung des Machtwechsels hin. Nun geht es jedoch darum, Syrien in einer Weise neu zu organisieren, die geeignet ist, die territoriale Integrität des Landes zu wahren. Das setzt den Ausgleich der Interessen multipler Akteure voraus.
Die siegreiche und überraschend kurze Rebellenoffensive führte HTS zusammen mit der protürkischen Syrischen Nationalarmee (SNA) und lokalen Milizen aus dem Süden des Landes. Anführer der Rebellen ist Abu Mohammed al-Golani (auch al-Dschulani oder al-Jawlani geschrieben). Der Geburtsname des 43-Jährigen lautet Ahmed Hussein al-Scharaa.
Nach dem US-geführten Einmarsch im Irak 2003 bekämpfte er amerikanische Truppen. In den USA ist nach wie vor ein Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar auf ihn ausgesetzt. HTS gilt in den USA und sogar in der Türkei als terroristische Vereinigung.
Vom Terroristen zum Mann des Ausgleichs: Der Machtinstinkt des Abu Mohammed al-Golani
Im syrischen Bürgerkrieg war al-Golani einer der Kommandanten der al-Nusra-Front. Dieser al-Kaida-Ableger fiel lange Zeit durch besondere Brutalität auf. Al-Golani selbst kündigte an, dass für Minderheiten wie Christen, Drusen oder Alawiten nach einer „syrischen Revolution“ kein Platz sein werde.
Allerdings hat sich al-Golani im Laufe des Bürgerkriegs erst der Aufforderung von IS-Führer al-Baghdadi widersetzt, sich dem IS anzuschließen. Später vollzog er auch den Bruch mit al-Kaida. Mittlerweile spricht er von einem dezentral organisierten Syrien und davon, dass dieses von Pluralität gekennzeichnet sein solle.
Zur Neuorientierung und der pragmatischeren Ausrichtung von HTS dürfte auch die jahrelange De-facto-Regierungspraxis beigetragen haben. Für die 2016 aus ihren früheren Hochburgen vertriebenen Rebellen war die Provinz Idlib nicht nur ein ruhiges Hinterland, in dem sie sich sammeln konnten. Al-Golani selbst nahm eine bedeutende Position in der dortigen „Heilsregierung“ ein.
Türkei geht im Norden weiter gegen die SDF vor
Neben den von HTS geführten Rebellen bleibt auch die Türkei ein entscheidender Mitspieler in der Region. Unter ihrem faktischen Kommando stehen die Rebellengruppen, die sich in der Syrischen Nationalen Armee (SNA) gesammelt haben. Diese kontrolliert weite Teile des Nordens Syriens, unter anderem die Gebiete rund um Afrin, Suluk und Ras al-Ain.
In den Jahren 2018 und 2019 ist die SNA vor allem gegen die sogenannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) vorgegangen. Diese werden von kurdischen Einheiten wie den „Volksverteidigungskräften“ (YPG) dominiert. Allerdings finden sich mittlerweile auch Kämpfer arabischer, christlicher, jesidischer und anderer Herkunft in deren Reihen. Die Türkei sieht darin einen Ableger der terroristischen PKK.
Die SDF kontrollieren den Nordosten des Landes mit dem Verwaltungssitz Qamischli, Teile der Provinz Deir ez-Zor und die Städte Rakka und Hasakah. Die SDF genießen – zum Leidwesen Ankaras – insbesondere die Rückendeckung der USA. Washington hatte sich vor allem auf kurdischen Bodentruppen gestützt, als es um die Vertreibung des IS aus seiner ehemaligen Hauptstadt Rakka ging.
USA wollen ihre 900 Militärberater weiter in Syrien belassen
Noch in den vergangenen Tagen war es zu Kämpfen zwischen SNA und SDF um Manbidsch und Tell Rifaat nördlich von Aleppo gekommen – obwohl beide Gruppen das Ende des Assad-Regimes begrüßen. Der politische Flügel der SDF, der „Syrische Demokratische Rat“, hat angekündigt mit allen Akteuren zusammenarbeiten zu wollen. In einer Erklärung hieß es laut dem Portal „Al-Monitor“:
Wir werden mit allen nationalen, kulturellen und gesellschaftlichen Kräften Syriens zusammenarbeiten. Wir werden dazu am nationalen Dialog teilnehmen und unsere Verantwortung wahrnehmen, um ein neues Syrien zu schaffen, das alle seine Bürger einschließt.“
Im Nordosten Syriens befinden sich auch noch 900 US-Soldaten, deren Hauptaufgabe die Ausübung von Militärberatung ist. Außerdem verfügen die USA noch über einen Stützpunkt in al-Tanf im Südosten nahe den Grenzen zu Jordanien und zum Irak. US-Präsident Joe Biden erklärte, zur „Sicherung der Stabilität in Syrien“ würden die US-Kräfte bis auf Weiteres im Land bleiben.
Russland „im Kontakt mit allen Oppositionsgruppen“
Unsicher ist, welche Rolle die Russische Föderation künftig in Syrien spielen wird. Sie betreibt einen Marinestützpunkt in Tartus und einen Stützpunkt der Luftwaffe an der Mittelmeerküste. Das Außenministerium in Moskau erklärte am Sonntag, diese seien zwar „in höchster Alarmbereitschaft“, bis dato sei jedoch keine ernsthafte Sicherheitsgefahr zu verzeichnen.
Russland hatte aufseiten der Führung unter Baschar al-Assad 2015 mit erheblichem Engagement in den Bürgerkrieg eingegriffen. Dabei ging die Luftwaffe massiv gegen Rebellen vor und war unter anderem für deren Vertreibung aus Aleppo verantwortlich. Mittlerweile hat Russland seine internationalen Prioritäten verschoben, Assad jedoch ein Exil ermöglicht. Das russische Außenministerium erklärt, „mit allen syrischen Oppositionsgruppen in Kontakt“ zu stehen.
Im Süden spielen noch einige lokale Rebellengruppierungen eine Rolle, die laut einem Bericht von „Foreign Policy“ von Israel unterstützt wurden. Diese haben am Freitag, 6.12., offenbar den Großteil der Provinzen Daraa und Suwayda eingenommen. Die letztgenannte Region wird vor allem von Drusen bewohnt.
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