Steueränderung trotz landesweiter Proteste – Regierung bittet um Verständnis

Tagelang fanden auf den Straßen Ungarns Proteste gegen eine Steueränderung statt. Betroffen sind Kleinunternehmer aus praktisch allen Lebensbereichen. Während die Opposition das Verfassungsgericht einschalten möchte, bitten Orbán und die Präsidentin der Republik die Betroffenen um Verständnis.
Protestkundgebung nach Ankündigung der Steueränderung in Ungarn. Etwa 450.000 Kleinunternehmen sind von den neuen, höheren Steuern betroffen.
Protestkundgebung nach Ankündigung der Steueränderung in Ungarn. Etwa 450.000 Kleinunternehmen sind von den neuen, höheren Steuern betroffen.Foto: Ferenc ISZA/AFP via Getty Images
Von 22. Juli 2022

„Die größte Steuererhöhung aller Zeiten wird auch den Berufsstand der Buchhalter lähmen“, erklärte der Nationale Verband der ungarischen Buchhalter (MKOE) in einer am Freitag (15. Juli) veröffentlichten Erklärung anlässlich einer kurz zuvor verkündeten Gesetzesänderung. Neben den Buchhaltern sind darüber hinaus etwa 450.000 Menschen im Land betroffen.

Friseure, Taxifahrer, Schriftsteller und andere kleine Gewerbetreibende können demnach ab September nur noch bei Rechnungen an Privatpersonen die bisherigen günstigen Steuerbedingungen anwenden. Bei Geschäften mit anderen Unternehmen werden künftig im Regelfall höhere Steuern fällig.

Nachdem Katalin Novák das Gesetz trotz landesweiter Proteste unterzeichnet hatte, kündigten Oppositionsparteien am Dienstag (19. Juli) an, sie würden das Verfassungsgericht um eine Überprüfung des Gesetzes ersuchen. Sie hoffen auf eine neue Verordnung, die Kleinunternehmen wirklich unterstützt und eine öffentliche Konsultation vorsieht.

Grund der Steueränderung – Regierungspolitik in Kriegszeiten

In einer Presseerklärung des Finanzministeriums heißt es: „Die neue Regelung ist notwendig, weil nach den vorliegenden Daten und den Rückmeldungen der Kammer einige Arbeitgeber ihre Beschäftigten in ein sogenanntes KATA-Vertragsverhältnis gezwungen haben, das die Staatskasse, die Beschäftigten und die ehrlichen Steuerzahler schädigt.“ Mit anderen Worten, es gebe zu viele schwarze Schafe, die die günstigen Steuerregeln ausnutzen.

Die „KATA“ (Pauschalsteuer für gering besteuerte Unternehmen) war in der Vergangenheit eine beliebte Option für Selbstständige mit geringem Einkommen. Die solle auch in Zukunft so bleiben. Nach den Plänen der Regierung wird die neue „KATA“ jedoch nur Kleinstunternehmern zur Verfügung stehen, die an Privatpersonen verkaufen, sodass Verträge mit anderen Unternehmen künftig höher besteuert werden. Die neuen Regeln werden am 1. September 2022 in Kraft treten.

Steueränderung betrifft 450.000 Unternehmer

Diese Aussage wurde auch vom Ministerpräsidenten Orbán in einem Interview mit dem Radiosender „Kossuth“ am 15. Juli bestätigt. Orbán schätzt, dass von den 450.000 betroffenen kleinen Steuerzahlern etwa 300.000 in einem Scheinarbeitsverhältnis stehen. Diese Kleinunternehmer stellen ihre Rechnungen hauptsächlich an ein einziges Unternehmen, sodass eigentlich höhere Steuern fällig wären.

Orbán wies in diesem Zusammenhang auf den zu erwartenden Schaden für das Rentensystem hin. Dieser entstünde durch den beträchtlichen Verlust von Mitteln, wenn das bisherige System beibehalten würde. Er bat die von den Steueränderungen betroffenen Menschen und Haushalte um Verständnis für die Regierungsentscheidungen.

Orbán sagte, dass die linke Opposition wahrscheinlich die künftigen„Maßnahmen, die infrage gestellt oder diskutiert werden können“, dazu nutzen werde, eine negative Atmosphäre zu schaffen, um politisch davon zu profitieren.

Weiter hat er erklärt, dass seiner Meinung nach in einer Kriegssituation die einzige Lösung darin bestehe, die Kräfte zu bündeln. So forderte er in seiner Rede die Steuerzahler und Haushalte auf, „zu verstehen, was passiert“ und die Regierung dabei aktiv zu unterstützen, ein funktionsfähiges Land zu erhalten.

Eine Woche Proteste

Nach der Ankündigung der Steueränderung kam es landesweit zu Demonstrationen, die immer größere Menschenmengen anzogen. Fast alle betroffenen Berufsverbände – Künstler, Verleger, Kuriere, Übersetzer, Schriftsteller, Theaterleute, Werbefachleute usw. – haben gegen das Gesetz protestiert.

Im Laufe der Woche protestierten die Demonstranten nicht mehr nur gegen die Steueränderung. Auch gleichzeitig angekündigte Vorschriften, die zu einer drastischen Erhöhung der Gemeinkosten führten, rückten in den Fokus. Diese sehen vor, dass sich der Strompreis verdoppelt und der Gaspreis versiebenfacht, wenn der Nutzer einen zentral festgelegten Durchschnittsverbrauch überschreitet. In der Hauptstadt gab es jeden Tag außer Sonntag Proteste gegen die angekündigten Gesetzesänderungen. Auch der ehemalige Oppositionskandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, Péter Márki-Zay, nahm mehrfach an den Protesten teil.

Am Montag (18. Juli) besetzten die Demonstranten die Margaretenbrücke in der Nähe des Parlaments. Ihr Hauptziel war es, die Einführung der Änderung auf Januar zu verschieben, die Änderung selbst neu zu gestalten und die Erhöhungen der Gemeinkosten zu stoppen. Diese Ziele wurden ebenfalls am Montag in einem offenen Brief an Orbán formuliert. Der Brief wurde von András Jámbor, Abgeordneter des 8. Bezirks, an den Staatssekretär der Regierung, Csaba Dömötör, übergeben. Nach Ansicht des Oppositionsabgeordneten „hat der Fidesz [Regierungspartei in Ungarn] im Wahlkampf sowohl bei der ‚KATA‘ als auch bei der Senkung der Gemeinkosten gelogen, als er sagte, er würde beides beibehalten“.

Demgegenüber steht eine Aussage in einem Medium, das Orbán meist kritisch gegenübersteht, dass dies nicht im Wahlkampf hervorgehoben wurde und daher kein Versprechen zustande kam.

Beruhigende Antworten in außergewöhnlichen Zeiten

Trotz der anhaltenden Proteste wurde die Steueränderung von der Präsidentin der Republik, Katalin Novák, unterzeichnet. Novák reagierte über ihre Facebook-Seite auf die Ereignisse:

„Heute habe ich das vom Parlament verabschiedete Gesetz über die Pauschalsteuer für kleine Steuerzahler unterzeichnet. Ich habe das verabschiedete Gesetz sowie die bei mir eingegangenen Stellungnahmen sorgfältig geprüft und berücksichtigt. Ich habe keinen Grund gefunden, den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Die Absicht des Gesetzgebers, der Zweck der Änderung, ist kaum umstritten […].“

Novák hat betont, dass sie Gespräche mit dem Regierungschef und Mitgliedern des Kabinetts führt. Ihr wurde versprochen, dass im Zuge der Ausarbeitung der detaillierten Vorschriften beruhigende Antworten auf berechtigte Fragen gegeben werden.

Novák schrieb auch über die außergewöhnlichen Zeiten, in denen wir lebten, und darüber, wie die Wirtschaftskrise im Gefolge des Krieges unser tägliches Leben durcheinanderbringe:

Kräfte, die sich unserer Kontrolle entziehen, machen die Zukunft unberechenbar. […] In einer Krise brauchen wir ruhige Hände, einen kühlen Kopf und ein mitfühlendes Herz.

Als Präsidentin der Republik hätte sie das Recht, Gesetze infrage zu stellen, aber in Zeiten des Notstands hält sie dies nicht für angebracht.

Mehr Geld für die Politik(er)

Kritische Stimmen wie die Oppositionspartei „Jobbik“ stellen die Aussagen von Novák infrage. In einem Facebook-Beitrag kündigte die Partei an, dass sie wegen des Gesetzes ebenfalls das Verfassungsgericht ersuchen wird, und nannte das Vorgehen der Regierung eine „grenzenlose Frechheit“:

„Während die Präsidentin in Brasilien lächelnd herumlief, hat die ungarische Regierung das Leben von fast einer halben Million weiterer Mitbürger ruiniert und Hunderttausende Familien in Gefahr gebracht. Sie hat die Abschaffung des Kata-Gesetzes im Rekordtempo durchgesetzt und dabei einmal mehr den Berufsstand und den Willen des ungarischen Volkes ignoriert. Während Tausende von Menschen in Budapest und im ganzen Land seit Tagen auf der Straße für ihre Zukunft protestieren, hat die Regierung nichts weiter getan, als die Gehälter von Staatssekretären und Ministern zu erhöhen.“



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