Shellenberger: „Woke ist eine Religion“

Der ehemalige Umweltaktivist Shellenberger bezeichnet die sogenannte Woke-Bewegung als eine Religion. Mit Forschern zusammen entwarf er ein Modell.
Titelbild
Michael Shellenberger.Foto: JAMES ARTHUR GEKIERE/AFP via Getty Images
Von 1. Februar 2022

Michael Shellenberger war mehr als 30 Jahre lang als Umweltaktivist tätig. Vom „Time“-Magazin 2008 als „Held der Umwelt“ betitelt, hat er im US-Kongress den Weltklimarat beraten. 

Doch dann kam eine Wende in seiner Einstellung. In einem Interview 2020 erklärte er, „ich hatte die Nase voll von Übertreibungen, dem Alarmismus und dem Extremismus“. Die Klimadebatte der letzten Jahre sei außer Kontrolle geraten, beklagt er. Der Alarmismus nehme der Wissenschaft die Glaubwürdigkeit. 

In seinen Büchern über Klima- oder Öko-Alarmismus schreibt er, dass die größten Apokalyptiker rund um Umwelt und Klima „diejenigen sind, die sich gegen die besten und offensichtlichsten Lösungen sperren“. Der Klimawandel sei da, aber er führt nicht zur Apokalypse. „Und er ist nicht einmal unser größtes Problem!“

Progressive stellen Lage schlimmer da

In seinem neuesten Buch „San Fransicko“ wirft er den Progressiven und Liberalen vor, dass sie gesellschaftliche und klimatechnische Themen schlimmer darstellen, als sie sind und so mehr Schaden als Nutzen anrichten. 

Dazu gehört die Ermordung unbewaffneter schwarzer Männer durch die Polizei, der vermeintliche Anstieg der Kohlendioxidemissionen und der extremen Wetterereignisse. 

Sie führten den Krieg gegen Drogen, die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit und Masseninhaftierungen als Beweise auf, dass sich in den letzten 30 Jahren in den USA wenig geändert hat. Das sei Shellenberger zufolge falsch. In jedem dieser Bereiche hätten die USA erhebliche Fortschritte gemacht. So sei die Zahl der polizeilichen Tötungen von Afroamerikanern in den 58 größten Städten von 217 pro Jahr in den 1970er-Jahren auf 157 pro Jahr in den 2010er-Jahren zurückgegangen.

Und zwischen 2011 und 2020 seien die Kohlenstoffemissionen in den USA um 14 Prozent zurückgegangen, mehr als in jeder anderen Nation, während nur 300 Menschen bei Naturkatastrophen ums Leben kamen – ein Rückgang von mehr als 90 Prozent im letzten Jahrhundert.

Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung

Diese Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung findet Shellenberger alarmierend. Das Misstrauen gegenüber der Polizei habe bewirkt, dass die Tötungsdelikte beinahe um 30 Prozent angestiegen sind. Kriminelle werden durch diese Zustände ermutigt und die Polizei zieht sich immer mehr zurück.

Zudem würden immer mehr Untersuchungen zeigen, dass die Medienberichterstattung über den Klimawandel zu einem Anstieg von Angstzuständen und Depressionen bei Kindern beiträgt.

Shellenberger wirft zudem den finanzstarken Lobbyorganisationen vor, die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen. US-Organisationen hätten Journalisten, politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit in Bezug auf Polizistenmorde und Drogenpolitik in die Irre geführt, indem sie oft einfach entscheidende Kontextinformationen weggelassen hätte, sagt der ehemalige Umweltaktivist. 

Klimaaktivisten, die als Experten auftreten, hätten Informationen über den Rückgang der Todesfälle durch Naturkatastrophen, die Kosten von Katastrophen im Verhältnis zum BIP-Wachstum und den Rückgang der Emissionen zurückgehalten. 

Shellenberger kritisiert auch die sozialen Medien dafür, zunehmend intolerant gegenüber der Meinungsvielfalt und widersprüchlichen Informationen zu sein. Soziale Medienplattformen wie Facebook, Twitter und Instagram würden Nutzer für das Teilen von Informationen, die bei Gleichgesinnten beliebt sind, belohnen. Gleichzeitig bestraften sie Nutzer für das Äußern unpopulärer, gemäßigterer und weniger emotionaler Meinungen.

Shellenberger zufolge habe sich dieser Kreislauf selbst verstärkt. Experten würden nach Schlussfolgerungen suchen, und Journalisten würden nur Geschichten schreiben, die die Vorurteile ihrer Zuhörerschaft bestätigen.

Wokeness ist eine Religion

Shellenberger geht mit seiner Kritik an die Progressiven sogar noch weiter und bezeichnet die sogenannte Woke-Bewegung als eine Religion. Dies sei jedoch nicht sofort ersichtlich und viele würden sich gegen diese These heftigst wehren, weil es kein offensichtlich mythologisches oder übernatürliches Element in der Woke-Ideologie gibt. Auch ihre Anhänger würden nie Gott oder eine andere höhere Macht erwähnen. 

Dies täusche jedoch. Anhänger der Woke-Bewegung würden ihre Überzeugungen propagieren, die man mythologisch und Shellenberger nach sogar als übernatürlich bezeichnen könnte. Solche seien: Der Klimawandel würde die Menschheit auslöschen oder die Weißen von heute seien für die rassistischen Handlungen der Weißen in der Vergangenheit verantwortlich. 

Shellenberger hat zusammen mit dem Philosophen Peter Boghossian und anderen Forschern ein Modell der Woke-Religionen entworfen. Boghossian hat nach zehn Jahren seinen Posten in der Portland Universität aufgegeben. Der Grund: zunehmende Bedrohung durch Lehrkräfte und Studenten der Woke-Bewegung.

Modell: Woke-Religion von Michael Shellenberger und Peter Boghossian. Foto: michaelshellenberger.substack.com

Das Modell der beiden umfasst sieben Themenbereiche: Rassismus, Klimawandel, Transsexuelle, Kriminalität, Geisteskrankheit, Drogen und Obdachlosigkeit. Diesen Themen werden zehn religiöse Kategorien zugeordnet: Erbsünde, der schuldige Teufel, Mythen, heilige Opfer, die Auserwählten, übernatürlicher Glaube, Tabu-Fakten, Tabu-Sprache, Reinigungsrituale, Reinigungssprache. 

Beispiel: Rassismus

Laut dem Modell ist die Erbsünde beim Rassismus die Sklaverei. Die Schuldigen seien die Weißen und die Polizei. 

Als Mythen werden gleich mehrere Themen genannt. Demnach soll der amerikanische Unabhängigkeitskrieg zur Erhaltung der Sklaverei beigetragen haben. Und der Erfolg von Asiaten sei darauf zurückführen, dass sie an der weißen Vorherrschaft teilhaben. 

Als heilige Opfer sind die schwarzen und indigenen Menschen aufgelistet – sowie die „People of Color“. Zu den Auserwählten zählen laut Tabelle Menschen, die Black Lives Matter oder der Bewegung der kritischen Rassentheorie angehören. Namentlich genannt sind Ta-Nehisi Coates, Ibram X. Kendi und Robin DiAngelo.

Zu dem übernatürlichen Glauben beim Rassismus gehört, dass Mathe rassistisch sei. Zudem soll der Rassismus so schlimm sein wie noch nie zuvor. Die heute lebenden weißen Menschen seien demnach für die Sünden der toten weißen Menschen verantwortlich.

Zu den Tabu-Themen gehört, dass die übermäßige Hervorhebung der Rasse zu noch mehr Rassismus führt. Oder dass der Erfolg der Asiaten das Ergebnis harter Arbeit und höherer Bildung ist.

Begriffe, die nicht in die Ideologie der Woke-Bewegung passen, sind „All lives matter“ oder umgekehrter Rassismus.

Als „Reinigungsrituale“ sehen die Autoren des Modells das Hinknien. Bei Sportveranstaltungen haben sich Sportler – vor allem in den USA – während der Nationalhymne hingekniet. Es sollte eine Geste zur Polizeigewalt gegen Schwarze sein.

„Woke ist nicht der Weg“

Shellenberger und Boghossian glauben nicht, dass das Modell den Einfluss der Bewegung reduzieren wird. Es soll lediglich anderen zur Orientierung dienen, die die Bewegung schwer einordnen können. 

„Bigotterie und Rassendiskriminierung sind real und haben keinen Platz in der Gesellschaft“, schreibt Boghossian. Den Rassismus und die Homophobie verneint er nicht. „Diese Phänomene sind moralisch abscheulich, und wir müssen alle zusammenarbeiten, um ihnen ein Ende zu bereiten.“ 

Die Woke-Religion sei jedoch nicht der Weg, um diese moralischen Schrecken zu beenden. Sie erschwert es vielmehr, die gemeinsamen Probleme zu lösen



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