Schweigende Mehrheit bei Brexit unterschätzt – Politikforscher „gehören zur Elite – Sorgen der Normalbürger sind ihnen fremd“
Bei den EU-Gegnern im britischen Milton Keynes spielen Arbeitslosigkeit, Globalisierungsängste und Ausländerfeindlichkeit keine große Rolle. Und trotzdem hat die florierende Stadt nördlich von London beim Referendum im Juni für den EU-Austritt Großbritanniens gestimmt. „Wir sind ein mächtiges Land, unsere Unabhängigkeit ist uns wichtig“, sagt die 69-jährige Diana Miller, die auch selbst für den Brexit votiert hat.
Wie der Wahlsieg des Immobilienmilliardärs Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November machte auch das Brexit-Referendum in Großbritannien tiefe Gräben in der Gesellschaft sichtbar: Wer jung ist, in der Stadt lebt und der Mittelklasse angehört, stimmte eher für den Verbleib in der EU. Die älteren, auf dem Land lebenden und benachteiligten Briten waren eher für den Brexit.
Doch in Milton Keynes geht die Rechnung nicht auf: Obwohl die erst 1967 gegründete Stadt eine der besten Beschäftigungs- und Wachstumsraten in Großbritannien hat, haben beim Referendum 51 Prozent der rund 250.000 Einwohner für den EU-Austritt gestimmt. Im ganzen Land waren es 52 Prozent.
„Wir unterschätzen dauernd die schweigende Mehrheit“, sagt der Politikwissenschaftler Richard Heffernan von der Open University in Milton Keynes. Die Stadt gelte als moderat, werde in der politischen Mitte verortet und sei bei Wahlen daher schon lange ein wichtiges Stimmungsbarometer. Doch obwohl die Parteien ihre Meinungsforscher gerade deshalb auch nach Milton Keynes geschickt hätten, habe die Stärke der EU-Skeptiker in der Stadt doch überrascht.
Viele Politikforscher gehörten der „städtischen Elite an“, der die Sorgen der Normalbürger fremd seien, sagt Heffernan zur Begründung. Den Menschen in Milton Keynes sei es beim Brexit weniger um Wirtschaft und Zuwanderung, sondern mehr um die nationale Souveränität Großbritanniens und die Verlagerung der Entscheidungsprozesse von London nach Brüssel gegangen.
Die Brexit-Befürworter in Milton Keynes hätten für „Souveränität und Verantwortung“ gestimmt, meint denn auch Diana Miller. Beim Referendum über den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1975 hätten die Briten „für den Binnenmarkt, nicht für einen Souveränitätsverlust gestimmt“, sagt die Krankenschwester im Ruhestand.
Miller schaut sich gerade eine Ausstellung zur 50-jährigen Geschichte von Milton Keynes im größten Einkaufszentrum der Stadt an: Die Stadt im Südosten Englands wurde im futuristischen Stil der 60er Jahre in schachbrettartigen Häuserblöcken angelegt, durch die sich große Straßen für den Autoverkehr ziehen. Die wichtigsten Arbeitgeber sind die spanische Bank Santander und die deutschen Autobauer Volkswagen und Merceredes Benz.
In Milton Keynes gebe es „immer gute Beschäftigungsmöglichkeiten“, sagte Katherine Moore, die gerade in der Babypause ist und sonst in der Gastronomie arbeitet. Für gut ausgebildete Leute gebe es „so viel Arbeit“, dass sie ihre Heimatstadt „niemals“ verlassen werde. „Wir brauchen die Ausländer“, sagt die 31-jährige, die ebenfalls für den Brexit gestimmt hat – weil sie für eine Stärkung des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS ist.
Heffernan sieht im Brexit-Votum daher vor allem ein Zeichen für die wachsende Entfremdung zwischen großen Teilen der Bevölkerung und den politischen Eliten. Das gelte für die Arbeiter- und Mittelklasse gleichermaßen. Politiker müssten sich angesichts dessen wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos fühlen. „Sie wissen, dass der Typ im Auto sie nicht mag – und sie wissen nicht, was sie tun sollen.“ (affp)
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