Schicksalswahlen 2019 UK: Konservative von Boris Johnson erringen absolute Mehrheit
Premierminister Boris Johnson und seine konservativen Tories gehen als klare Sieger aus der Parlamentswahl in Großbritannien hervor. Die Partei errang nach Auszählung von rund 600 der 650 Wahlkreise am Morgen mindestens 326 Sitze und damit die absolute Mehrheit im Unterhaus.
Dreieinhalb Jahre nach dem knappen Votum der Briten zum EU-Austritt scheint dem Brexit nun nichts mehr im Wege zu stehen. Seine Regierung habe „ein machtvolles Mandat erhalten, den Brexit durchzuziehen“, verkündete Johnson am frühen Morgen in seinem Wahlkreis nahe London.
Oppositionsführer Jeremy Corbyn erkannte die Niederlage von Labour an und kündigte seinen Rückzug von der Partei nach einer Übergangsphase an.
Johnsons Konservative kommen nach den Berechnungen der Sender auf insgesamt 362 der insgesamt 650 Mandate. Labour erhält demnach 199 Mandate – das wäre ein historisch schlechtes Ergebnis.
Nach der Auszählung von 375 der 650 Wahlkreise führten Johnsons Konservative deutlich mit 196 gewonnenen Sitzen. Labour hatte zu diesem Zeitpunkt 128 Wahlkreise für sich entschieden.
In Schottland räumte die Schottische Nationalpartei ab, was Spekulationen über ein möglicherweise bevorstehendes neues Unabhängigkeitsreferendum befeuerte.
Johnson bedankte sich bei allen Wählern, freiwilligen Helfern und Kandidaten seiner Partei. „Wir leben in der großartigsten Demokratie der Welt“, schrieb er auf Twitter.
Die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley dämpfte die Hoffnung auf ein rasches Ende des Brexit-Streits. Johnson habe mit „der leeren Versprechung“ gepunktet, den Brexit schnell abhandeln zu können, erklärte die Vizepräsidentin des Europaparlaments am späten Donnerstagabend der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel.
Zunächst müsse der Austrittsvertrag durch das britische und das Europäische Parlament. „Und danach geht es erst richtig los: Die zukünftige Beziehung des Vereinigten Königreiches mit der EU muss verhandelt werden“, erklärte Barley. „Johnson will das in wenigen Monaten schaffen – das wird nicht funktionieren.“
Dem Austrittsabkommen zufolge soll das Land bis Ende 2020 in einer Übergangsphase bleiben. Bis dahin will Johnson einen Vertrag über die künftigen Beziehungen mit der Staatengemeinschaft aushandeln.
Die Zeit dafür gilt jedoch als denkbar knapp. Eine Verlängerungsoption um bis zu zwei Jahre, die noch bis Juli 2020 möglich ist, hat der Premier ausgeschlossen. Sollte kein Anschlussabkommen zustande kommen, droht Ende kommenden Jahres wieder ein No-Deal-Szenario.
EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich kooperativ. „Wir werden sehen, ob es für das britische Parlament möglich ist, das Austrittsabkommen zu akzeptieren“ sagte Michel nach dem EU-Gipfel in der Nacht zum Freitag in Brüssel. „Falls das der Fall ist, sind wir bereit für die nächsten Schritte.“
Johnson gelang es, seinen Londoner Wahlkreis Uxbridge mit klarer Mehrheit zu halten. Der Tory-Chef versammelte rund 7000 Stimmen mehr auf sich als sein nächster Mitbewerber, wie die örtliche Wahlleitung am frühen Freitagmorgen bekanntgab. Im Vorfeld waren Spekulationen laut geworden, Johnson könnte seinen Parlamentssitz verlieren, seine Partei die Wahl aber insgesamt gewinnen. Dies hätte die Position des Premierministers schwächen können.
Die Chefin der britischen Liberaldemokraten, Jo Swinson, verlor ihr Mandat. Das teilte der zuständige Wahlleiter im schottischen Dunbartonshire East mit. Ihr Sitz ging an die Kandidatin der Schottische Nationalpartei SNP. Swinson hatte sich dafür ausgesprochen, den Brexit einfach abzusagen. Noch vor wenigen Monaten gab sie das Ziel aus, Premierministerin zu werden. Die Liberaldemokraten gehören zu den Verlierern der Wahl.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon wertete den prognostizierten Wahlausgang auf Twitter als „bitter“ für das Land. Gleichzeitig freute sie sich über das starke Abschneiden ihrer Schottischen Nationalpartei. Sturgeon dürfte das als Mandat für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für den Landesteil deuten.
Die Briten hatten 2016 in einem Referendum mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt. Nach zähen Verhandlungen konnte Johnsons Vorgängerin Theresa May im November 2018 ein Austrittsabkommen vorlegen. Doch die anschließende Ratifizierung im britischen Parlament scheiterte. Nicht zuletzt, weil ihre Regierung seit der vergangenen Wahl 2017 keine eigene Mehrheit mehr hatte. Der Brexit wurde mehrmals verschoben, May musste schließlich zurücktreten. (dpa)
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Heute wählt das Volk des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland ein neues Parlament. Dies ist zweifellos eine der wichtigsten Wahlen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, da sie die zukünftige politische und wirtschaftliche Struktur der Europäischen Union definieren und wahrscheinlich verändern wird.
Trotz der Bedeutung dieser Wahl war der Wahlkampf einer der ereignislosesten und uninteressantesten seit Menschengedenken. Die wichtigsten Ereignisse, die sich in den letzten Wochen in Großbritannien ereignet haben, sind ein BBC-Interview von Prinz Andrew im Zusammenhang mit dem Fall Epstein sowie der jüngste Terroranschlag in London.
Ich werde in der Nacht zum 13. Dezember unter www.bachheimer.com über die Ergebnisse berichten und diese kommentieren, wie immer, wenn britische und amerikanische Wahlen stattfinden.
Ereignisloser Wahlkampf
Wie lässt sich dieser Widerspruch zwischen der Bedeutung der Wahl und der Langeweile des Wahlkampfes erklären? Wahrscheinlich haben beide Seiten bereits bekommen, was sie wollten – wenigstens auf den ersten Blick.
Die Remainer fordern seit einem Jahr eine so genannte “people’s vote”, eine “Abstimmung des Volks”, um das Ergebnis des Referendums 2016 umzudrehen (als ob das Referendum 2016 selbst keine “Abstimmung des Volks” gewesen wäre).
Die Brexit-Befürworter wiederum fordern seit dem Amtsantritt Boris Johnsons neue Parlamentswahlen in der Hoffnung, dass aus diesen ein neues Parlament mit einer Mehrheit für den Austritt hervorgehen wird.
Die Wahl 2019 bietet beiden Seiten, was sie wollen: eine zweite Volksabstimmung über den Brexit einerseits sowie die Ersetzung des alten Parlaments durch ein neues andererseits.
Ein weiterer Grund für die Ereignislosigkeit des Wahlkampfes ist, dass es bei den Wahlen in erster Linie um den Brexit geht und sich in dieser Frage die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung längst entschieden hat. Drei Wochen Wahlkampf werden diese Meinungen wohl nicht ändern.
Hoffen wir, dass diese Wahlen Großbritannien ein Parlament mit einer klaren Mehrheit für eine der angebotenen Optionen bringen.
Die vier Hauptparteien (Conservatives, Labour, LibDem, Brexit) bieten den Wählern unterschiedliche Lösungen für das Brexit-Problem. Die beiden größten Parteien sind durch den Umstand behindert, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen dem, was viele ihrer Wähler wollen, dem, was ihre Parteimitglieder gerne hätten und dem, was die Parteiführung will.
Was sind die wichtigsten zur Wahl stehenden Parteien?
Die Brexit Party (Leader Nigel Farage)
Die Brexit Party will einen Rückzug aus der EU ohne Deal. Sie argumentiert, dass nur ein No Deal Brexit die politische und wirtschaftliche Souveränität Britannniens wirklich wiederherstellen kann.Die Wähler, Mitglieder und Führung der Brexit-Partei sind sich da einig.
Die Conservative and Unionist Party (Leader Boris Johnson)
Die Conservative Party sagt, sie wolle einen Austritt aus der EU auf der Grundlage des zwischen Boris Johnson und der EU-Kommission ausgehandelten Abkommens.
Großbritannien würde auf der Grundlage dieses Withdrawal Agreements die EU verlassen. In einer Übergangszeit soll von der neuen britischen Regierung der endgültige Vertrag über die langfristigen Beziehungen zwischen Britannien und der EU ausgehandelt werden.
Die Mitglieder der Konservativen Partei sind überwiegend gegen die EU. Nach meiner Einschätzung sind aber viele konservative Wähler, insbesondere in Südengland und Wales, in dieser Frage weniger dogmatisch als die Parteimitglieder.
Das Hauptproblem der Konservativen Partei ist die Tatsache, dass ihre bisherige Führung stark EU-orientiert war.
Nur eine Minderheit der Parlamentsabgeordneten in der so genannten Europäischen Reformgruppe (ERG) um Jacob Rees-Mogg ist grundsätzlich gegen eine EU-Mitgliedschaft. Da Theresa May im letzten Parlament keine Mehrheit hatte, übte diese Gruppe einen unverhältnismäßigen Einfluss innerhalb der regierenden konservativen Partei aus.
Im letzten Parlament gab es auch eine ebenso kleine Gruppe von Abgeordneten, die entschlossen war, einen No Deal Brexit um jeden Preis zu verhindern.
Diese Gruppe, die sich aus einflussreichen Persönlichkeiten wie dem ehemaligen Finanzminister und früheren Generalsekretär der Bilderberggruppe, Kenneth Clarke, dem ehemaligen Generalstaatsanwalt Dominic Grieve oder dem ehemaligen Thatcher-Minister Oliver Letwin zusammensetzte, hatte einen noch größeren und unverhältnismäßigen Einfluss auf die Entscheidungen des („ausgehenden“) Parlaments über die Bedingungen des EU-Austritts von Britannien.
Diese Gruppe hat sich an die Seite der Oppositionsparteien gestellt, um zu verhindern, dass Mays und Johnsons Brexit Deals angenommen würden. Folge davon war, dass die Konservative Partei bei den Europawahlen 2019 eine Nahtoderfahrung machte, als sie nur 9 % der Stimmen erhielt. Die Brexit-Partei erhielt 31 % der britischen Stimmen und ist derzeit die größte Einzelpartei im Europäischen Parlament.
Diese Niederlage führte dazu, dass Theresa May als Premierministerin durch Boris Johnson ersetzt wurde.
Nachdem Pro EU-Rebellen sich auf die Seite der Opposition gestellt hatten um die Regierung in einer Parlamentsabstimmung zu besiegen, warf Johnson diese umgehend aus der Partei und hinderte sie auf diese Weise, bei der kommenden Wahl als Kandidaten des Konservativen Partei anzutreten.Anschließend verhandelte Johnson ein neues Abkommen mit der EU.
Er hofft, dass es ihm durch ein neues, für die gesamte Konservative Partei attraktiveres Abkommen sowie durch den Ausschluss von illoyal gewordenen Abgeordneten gelungen ist, die Konservative Partei wieder zusammenzuführen und die Brexit-Partei zu marginalisieren.
Johnson hofft, dass er am Freitagmorgen mit einer stabilen parlamentarischen Mehrheit und einem Parlament ohne Abgeordnete der Brexit-Partei aufwacht.
Die Labour Party (Leader Jeremy Corbyn)
Labour ist die am meisten zersplitterte von den vier wichtigsten Parteien.
„Im großen Bild“ stehen alle europäischen sozialdemokratischen Parteien in ganz West- und Mitteleuropa vor einem Hauptroblem: Eine große Zahl von Wählern der Arbeiterklasse hat ihr Vertrauen in die Parteien verloren, die traditionell die Interessen der Arbeiterbewegung vertreten.
In Großbritannien sind diese Wähler in der Regel gegen die EU und haben die Möglichkeit für die Brexit-Partei zu stimmen.
Es gibt eine andere Gruppe an Wählern und Parteimitgliedern, die sich weiterhin als überzeugte Sozialisten begreifen. Diese sind eher Pro-EU-Wähler. Die Pro-Corbyn-Jugendorganisation der Partei (Momentum) ist sehr links sowie für die EU, da sie an offene Grenzen, globale Regierungsstrukturen und die Notwendigkeit koordinierter internationaler Maßnahmen glaubt, um Probleme wie den Klimawandel zu bekämpfen.Die Gewerkschaften haben dagegen einen großen Anteil älterer, kulturell konservativer und EU-feindlicher Mitglieder in ihren Reihen.
Was die Führung betrifft, so ist Jeremy Corbyn ein Relikt der Hard Left-Clique um Tony Benn (Vater vom Sponsor des Benn-Letwin Bills, das den No Deal Brexit am 31.10.2019 verhinderte), die in den 1970er Jahren die Labour Party übernahm.
Corbyn glaubt an den Sozialismus alten Stils: Verstaatlichung, Enteignung, Kapitalkontrolle, Widerstand gegen den US-amerikanischen und britischen Imperialismus. Der Mann, der Schatzkanzler (Finanzminister) in einer neuen Labour-Regierung werden sollte, John McDonnell, bezeichnete sich selbst als Marxist.
Corbyn war in den 1970er Jahren gegen die Mitgliedschaft Großbritanniens im Gemeinsamen Markt und steht im Verdacht, weiterhin gegen eine Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU zu sein. Das Manifest der Labour Partei für die bevorstehende Wahl beruht auf Prinzipien, die im letzten Absatz angeführt wurden.
Es gab Diskussionen darüber, ob dieses Manifest aus rechtlicher Sicht mit den vier Grundfreiheiten vereinbar ist, die der EU zugrunde liegen (freier Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der Grenzen der Union). Vielleicht auch ein Grund für Corbyns Mangel an Begeisterung für die EU.
Abgesehen von Corbyn und seinen engsten Verbündeten bleibt die Parteiführung jedoch weitgehend auf Blair-Linie. Das heißt, sie glaubt an global governance auf der Grundlage von Gesetzen, die von trans-nationalen Technokraten entworfen wurden, an offene Grenzen und freien Kapitalverkehr und akzeptiert ohne Einschränkung den daraus resultierenden Druck auf Qualität und Zugänglichkeit des Sozialstaates. Sie akzeptiert auch die Auswirkungen der Freizügigkeit von Arbeit und Kapital auf den Preis von Wohnen und Arbeit.
Mit anderen Worten: Die „Blairites“ in der Arbeiterpartei glauben an Globalisierung und Finanzkapitalismus. Der Brexit-Sprecher der Labour-Partei, Keir Starmer, ist Mitglied der von David Rockefeller gegründeten Trilateralen Kommission.
Natürlich wäre es für jede Führung schwierig eine europäische Politik zu entwickeln, unter der sich alle diese unterschiedlichen Gruppen zusammenschließen können. Unglücklicherweise für Labour scheint die Brexit-Politik der Partei diese Fragmentierung zu institutionalisieren. Soweit derlei noch allgemein verständlich ist, soll das folgendermaßen vonstatten gehen:
Die Regierung Corbyn wird mit der EU ein neues Abkommen aushandeln, das Großbritannien verpflichtet, EU-Vorschriften in vielen Bereichen der Industrie- und Sozialpolitik zu akzeptieren und umzusetzen. Dieses neue Abkommen wird dann in einem zweiten Referendum den Wählern vorgelegt um festzustellen, ob die Öffentlichkeit den Abschied von der EU zu diesen Bedingungen wünscht oder ob sie lieber in der EU bleibt.
Die Labour-Partei wird den Menschen in diesem Referendum keine offizielle Empfehlung geben. Jeder Politiker wird die Freiheit haben, das Abkommen zu befürworten oder abzulehnen. Führende Politiker, wie die potenzielle Außenministerin Emily Thornberry, würden sich gegen den Brexit-Deal von Labour und für ein Verbleiben bei der EU einsetzen. Corbyn selbst hat gesagt, dass er sich nicht an einer zweiten Referendumskampagne beteiligen, sondern neutral bleiben wird.
Eine der interessantesten Fragen, die am Donnerstagabend beantwortet sein wird, ist, ob es der Labour Partei mit diesem auf den Prinzipien des demokratischen Sozialismus basierende Potpourri gelingen wird, dem Trend zu trotzen, der aktuell die sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa schwächt.
Die Liberal Democrat Party (Vorsitzende Jo Swinson)
Die Liberaldemokratische Partei ist eine äußerst interessante Partei und verdient im Rahmen einer Brexit-Wahl mehr Aufmerksamkeit als sie normalerweise erhält. Von Natur aus ist sie ein Geschöpf des Kompromisses.
Die Liberal Democrat Party entstand Anfang der 1980er Jahre, als die Überreste der alten Liberalen Partei mit der neu gegründeten Social Democratic Party (SDP) verschmolzen.
Die SDP kann als Vorläuferin des Blairismus angesehen werden. Führende Mitglieder der 1979 zusammengebrochenen Labour-Regierung verließen damals die Arbeitspartei, nachdem diese von einer von Tony Benn geführten Hard-Left-Gruppe übernommen worden war. Zu dieser Gruppe gehörte der damals junge Jeremy Corbyn und deren Prinzipien ist er bis heute unerschütterlich treu geblieben.
Die alte Liberal Party, die in erster Linie von einem Bekenntnis zur individuellen Freiheit geprägt war, war zwischen 1930 und 1950 durch die Weltwirtschaftskrise, die notwendige Ausweitung der Staatsmacht während des Zweiten Weltkriegs und den Erfolg der Sozialstaatsreformen der Labour Party nach 1945 an den Rand gedrängt worden.
Bis Ende der Sechzigerjahre war sie auf die sogenannten “keltischen Ränder” von Wales und Schottland zurückgeworfen worden.
Das Wachstum des walisischen und schottischen Nationalismus in den 1970er Jahren führte zu einer Krise in der Liberal Party. Die Führung gelangte zum Schluss, dass die historische Tradition des Liberalismus in Großbritannien keine ausreichend starke Grundlage für künftiges politisches Handeln bieten würde.
Sie folgerte, dass der klassische britische Liberalismus nun zu schwach sei, um eine selbst tragende politische Kraft in der nationalen Politik zu sein, und gründete zusammen mit vier führenden Sozialdemokraten eine neue Partei.Diese nannte sich selbst die Liberal Democrat Party. Ihr politisches Programm lässt sich wie folgt zusammenfassen: Individuelle Freiheit ja, aber ausgeglichen durch ein Bekenntnis zum sozialen Zusammenhalt.
Die Liberaldemokratische Partei war daher von Anfang stärker linksgerichtet als die alte Liberale Partei das war und diese Linksverschiebung setzte sich mit der Veränderung der Gesellschaft während der Blair-Jahre fort.
Ein wesentliches Anliegen der LibDem-Partei war immer ihre Unterstützung der europäischen Integration.
Insbesondere Westdeutschland wurde von Liberaldemokraten als leuchtendes Beispiel angesehen. Die Kombination hoher Standards sowohl in der industriellen Produktion als auch im Wohlfahrtsstaat sowie die Fähigkeit der alten Bundesrepublik ein hohes Maß an sozialer Harmonie mit der Garantie politischer und wirtschaftlicher Freiheit zu verbinden, wurden von der Liberalen als eine Errungenschaft angesehen, der Großbritannien nachahmen sollte.
Die idealen Führungsfiguren der LibDems wären Ludwig Erhard und Helmut Schmidt gewesen. Die neue Partei hoffte, sich in einer ähnlichen Rolle wie die FDP Genschers zu etablieren, links und rechts zusammenbringen und als Stimme der Mäßigung, Stabilität und der Vernunft fungieren zu können.
Die LibDems haben dieses Ziel schließlich im Jahr 2010 erreicht, als sie mit David Camerons Konservativen eine Koalitionsregierung bildeten. Leider hat die Brexit-Krise den Teppich unter den Füßen dieser Partei weggezogen.
Widerstand gegen die EU wäre für die alte Liberale Partei möglich gewesen, die auf einer unerschütterlichen emotionalen und intellektuellen Loyalität zur britischen Tradition der politischen und wirtschaftlichen Freiheit beruhte.
Für die „neuen“ LibDems ist das offenkundig zu einer unmöglichen Option geworden.
Das hat die Partei veranlasst, ihr anderes Gründungsprinzip aufzugeben, die Stimme der Mitte zu sein, die Kluft zwischen links und rechts zu überbrücken und eine Politik des Kompromisses anzubieten, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern würde.
Im Kontext der britischen Politik, die auf einer (gepflegten) öffentlichen Auseinandersetzung zweier konträrer Standpunkte aufbaut, mag diese Vorstellung von einer absichtlich kompromiss-orientierten Politik von Anfang an eine Illusion gewesen sein. Zweifellos hat Nick Cleggs und David Camerons Kompromiss-Koalition den Ruf der LibDems in der Öffentlichkeit zerstört. Sie erlitten eine schwere Niederlage bei den Wahlen 2017.
Die LibDems haben nun allerdings dieses Leitprinzip über Bord geworfen. Auf ihrem Parteitag im September beschlossen sie, eine kompromisslose EU Politik zu vertreten, mit dem erklärten Ziel, das Ergebnis des Referendums 2016 außer Kraft zu setzen.
Auf den ersten Blick scheint dies eine ehrliche und prinzipientreue Haltung zu sein. Die LibDems hofften zweifellos – und haben dies vielleicht sogar erwartet -, dass sie wegen der inkohärenten EU-Politik Labours die beliebteste Partei für diejenigen werden würden, die in der EU bleiben wollen.Dies könnte eine Fehleinschätzung gewesen sein.
Sie haben auch die Auswirkungen einer der wichtigsten Veränderungen der „Blair-Revolution“ unterschätzt. “Peopleˋs Votes” spielen historisch gesehen keine Rolle in der britischen Verfassung. Die Souveränität liegt in den Händen des Parlaments oder der Krone oder der “Queen im Parlament”, um den Fachbegriff zu verwenden.
Blair führte den Begriff der Volkssouveränität erstmals in die britische Politik ein, als er Referenden zur Frage der nationalen politischen Autonomie in Wales und Schottland ansetzte. Er verknüpfte diese mit der Vorstellung, dass das Ergebnis dieser Volksabstimmungen das Parlament verpflichteten würde, bestimmte Gesetze zu erlassen.
In seiner „grenzenlosen“ Weisheit hat Cameron diese Interpretation von Referenden anlässlich der von ihm angesetzten Schottland- und EU Referenden ausdrücklich bestätigt. Allmählich wurde die Vorstellung, dass Volkssouveränität Vorrang vor parlamentarischer Souveränität hat, Teil der politischen Kultur des Landes.
Die LibDems könnten, „technisch gesehen“, recht haben, wenn sie davon ausgehen, dass das Parlament das Recht hat, ein Referendumsergebnis zu annullieren.
Viele Wähler sind anderer Meinung und werfen dieser Partei mangelnde Achtung der Demokratie vor. Einige behaupten, dass die LibDems ein größeres Gefühl der Solidarität mit der politischen Elite der EU empfinden als mit ihren euroskeptischen britischen Mitbürgern. Diese Wahrnehmungen haben die LibDem-Partei in ihrem Wahlkampf in die Defensive gedrängt.
Zweifellos befinden sich die LibDems an einer Wegkreuzung. Meiner Meinung nach ist die neue Linie, dass nämlich die bedingungslose Loyalität gegenüber der EU von größerer Bedeutung ist als die selbst auferlegte Aufgabe, eine Politik zu definieren, die die Kluft zwischen links und rechts überbrücken und das Land zusammenführen kann, ein schwerer politischer Fehler der LibDem Führung.
Der größte Fehler, den die Führung dieser Partei in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hat, war allerdings die Entscheidung, die alte Liberal Party aufzugeben.
Die Verwandlung Großbritanniens von einer klassisch liberalen Gesellschaft auf Basis des Naturrechts in einen politisch-korrekten Überwachungsstaat wurde durch das Fehlen einer integren Institution, die ihre Stimme kompromisslos für das Recht des Individuums auf politische und wirtschaftliche Freiheit erhoben hätte, enorm erleichtert.
Auch wenn Großbritannien die EU tatsächlich verlassen sollte, kann sich diese Entwicklung weiter verschärfen. Frei denkende Menschen werden sich womöglich zunehmend der Gnade einer unkontrollierbaren Staatsmacht ausgeliefert sehen. Davon können schon jetzt so unterschiedliche Menschen wie christliche Strassenprediger, Eltern, die gegen LBGT Unterricht in Volksscshulklassen protestieren, Benutzer von social media und Julian Assange ein Lied singen.
Prognosen
Zu Beginn des Wahlkampfes lag der Unterschied zwischen Labour und Konservativen in den Meinungsumfragen bei etwa 10 Prozentpunkten. Am Ende liegt er ebenfalls in dieser Größenordnung.
In den letzten Umfragen haben die Konservativen 42%, Labour 32%, die LibDems 15%, Brexit 4% (Anmerkung: Die Brexit-Partei kandidiert nur für die Hälfte der Sitze).
Die Unterstützung für die LibDems ist zurückgegangen, die Remainers scheinen zum Schluss gekommen zu sein, dass Labour jene Partei ist, die ihre Interessen eher vertritt.
Die Unterstützung für die Brexit-Partei ist zusammengebrochen. Das muss im Zusammenhang mit dem Wahlsystem beurteilt werden. Im angloamerikanischen System können Politiker nur dann ins Parlament oder in den Kongress gewählt werden, wenn sie bei einer Direktwahl in einem regionalen Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten.
Der Kandidat mit der höchsten Stimmenzahl gewinnt den Sitz. Nehmen wir zum Beispiel einen fiktiven Wahlkreis, in dem der Labour-Kandidat 35% der Stimmen erhält, der konservative Kandidat 30% und der Kandidat der Brexit-Partei 21%, dann würde der Remainer-Kandidat der Labour Party den Sitz gewinnen, obwohl 51% der Wähler gewollt hatten, dasss ein Pro-Brexit-Kandidat sie im Parlament vertritt.
Um zu verhindern dass sich die Pro-Brexit-Stimmen aufteilen und Labour Mandate ermöglichen, befahl Farage seinen Kandidaten sich in den 311 Wahlkreisen, die im letzten Parlament von der Konservativen Partei gehalten wurden, zurückzuziehen. Die Brexit-Partei bewirbt sich nur um Sitze, die aktuell von Labour und LibDems gehalten werden.
Dies verschafft der Konservativen Partei einen enormen Vorteil. Wenn die Konservativen aber 326 Stimmen benötigen, um eine Mehrheit zu bilden, müssen sie daher mindestens 15 Sitze von Labour oder den LibDems gewinnen.
Sie haben 13 Sitze in Schottland, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie eine große Anzahl davon verlieren werden. Die Aufteilung von Pro-Brexit-Stimmen kann verhindern, dass die Konservativen Sitze in Arbeiterbezirken in den Midlands und in Nordengland gewinnen, wo die Brexit-Partei kandidiert.
Die Wahl am Donnerstag wird mit den Antworten auf die folgenden Fragen entschieden:
• Wird die Unterstützung der LibDems Bestand haben? Wenn nicht, werden die Stimmen an die Labour Party gehen und es dieser damit ermöglichen Sitze zu gewinnen?
• Wie viele Stimmen wird die Brexit-Partei in den nördlichen Arbeiterbezirken erhalten?
• Kann Labour dem kontinentaleuropäischen Trend zum Schleifen sozialdemokratischer Parteien widerstehen?
• Wird die Position der SNP , die für die EU und für die Unabhängigkeit (von UK) ist, belohnt?
• Können in Schottland die Konservativen als Partei der Union (des Vereinten Königreichs) ihre Wählerunterstützung aufrecht erhalten?
Und vor allem:
Wird ein neues Parlament mit einer klaren Mehrheit für Boris Johnsons Austrittsabkommen gewählt werden?
Wie üblich werde ich die Ergebnisse kommentieren, wie sie am Donnerstagabend ab etwa 23.00 Uhr auf bachheimer.com eintreffen.
John James ist ein britischer Politologe, der in Österreich lebt und schon seit langem Gastautor bei bachheimer.com.
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