Russland und der Migrationspakt: Warum der Kreml daran festhalten wird
Die am Mittwoch gefällte Entscheidung der österreichischen Bundesregierung, den geplanten UN-Migrationspakt nicht zu unterzeichnen, hat auch weitere europäische Länder dazu veranlasst, ihre Position zu dem Vertragsentwurf zu überdenken. Nach den USA und Ungarn ist die Alpenrepublik das dritte Land, das sich dazu entschlossen hat, am „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ nicht teilzunehmen.
Die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović erklärte am 30. Oktober 2018: „Seien Sie versichert, dass ich das Abkommen von Marrakesch nicht unterzeichnen werde.“
Auch in weiteren EU-Mitgliedsländern wie Tschechien, Polen, Dänemark oder der Slowakei wächst die Skepsis und Beobachter rechnen damit, dass mehrere von ihnen noch vor der vorgesehenen Unterzeichnungszeremonie am 10./11. Dezember in Marrakesch ihren Rückzug erklären könnten.
Der Pakt, der keine direkte Rechtswirkung hat, sondern politische Verpflichtungen schaffen soll, verfolgt das Ziel, globale Standards zum Umgang mit Migranten und Flüchtlingen festzuschreiben. Er soll mehr Möglichkeiten für ein gemeinsames Vorgehen bei der Bewältigung von Flüchtlingsbewegungen schaffen und die Rechte der Betroffenen stärken.
Im Papier selbst ist die Rede davon, dass das „souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen“, von der Vereinbarung nicht berührt wird. Skeptiker wollen auf die Tragfähigkeit dieser Zusicherung nicht vertrauen. Immerhin reichen die Empfehlungen weit über die Gesetzgebung im engeren Sinne hinaus.
So werden etwa Medien – auch nicht staatliche – zu einer „humanen und konstruktiven“ Rolle in der Berichterstattung angehalten. Was dies bedeuten könnte, lässt sich nicht zuletzt anhand des Grundtenors deutscher Mainstreammedien nach der Grenzöffnung vom September 2015 ermessen. Auch enthält der Pakt Aussagen zu Internierungen und Sammelabschiebungen sowie zum sogenannten „Racial Profiling“ nach Ethnie, Religion oder Hautfarbe bei Polizeiermittlungen, die befürchten lassen, die Handlungsfreiheit der Nationalstaaten solle empfindlich beschränkt werden.
In Moskau ist ein Ausstieg kein Thema
Ein wesentliches Argument für die österreichische Bundesregierung, den Pakt nicht zu unterzeichnen, ist, dass dieser möglicherweise ein Völkergewohnheitsrecht schaffen würde, das über Gerichtsentscheidungen auch innerstaatlich wirksam werden könnte. Man wolle, heißt es aus der Regierung in Wien, ein „Menschenrecht auf Migration“ durch die Hintertür verhindern. Österreich moniert auch, dass der Text des Vertragsentwurfes nicht klar genug zwischen Flucht und Arbeitsmigration unterscheide.
In Anbetracht des Ausstiegs der USA, Ungarns, Österreichs und Kroatiens und der Aussicht auf weitere Absagen vorwiegend aus den Staaten der Visegrád-Gruppe – jeweils aus Gründen der Besorgnis um die eigene Souveränität – blicken Befürworter und Gegner auch in Richtung der Russischen Föderation. Dass es gerade aus Moskau kaum Statements zum Migrationspakt gibt, vor allem keine, die auf einen möglichen Ausstieg Russlands hindeuten, sorgt für offene Fragen und für Verwunderung.
Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, hatte in der Vergangenheit bei mehreren öffentlichen Auftritten kritische Worte zur Einwanderungspolitik der deutschen Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel verloren. Auch haben russische Staatsmedien im In- und Ausland – mit unterschiedlichen Nuancen und in uneinheitlicher Qualität – die Folgen dieser Politik zum Thema gemacht und auf diese Weise auch auf Kosten weitgehend zurückhaltender deutscher Leitmedien migrationskritische Leser gewinnen können.
Im politischen und medialen Mainstream wurde Russland deshalb vorgeworfen, das Unbehagen und die Ängste vor der Migration in westlichen Staaten bewusst und gezielt zu fördern, um damit deren Stabilität zu unterminieren. Dies ging so weit, dass Kommentatoren wie Jan-Philipp Hein in der „Schweriner Volkszeitung“ sogar verschwörungstheoretisch anmutende Szenarien darlegten, wonach Wladimir Putin die sexuellen Übergriffe der Silvesternacht 2015 auf der Kölner Domplatte organisiert hätte.
Deutschsprachige russische Medien berichten wenig über den Migrationspakt
Umso verwunderlicher ist es jetzt für Freund und Feind, dass Russland keinerlei Anstalten macht, sich aus dem Migrationspakt zu verabschieden. Auch die staatlichen Auslandsmedien berichten wenig intensiv über den geplanten Vertrag. Der Ausstieg Österreichs war Anlass für im Großen und Ganzen wertungsfreie Berichte, zuvor gab es zumindest in deutschsprachigen Formaten allenfalls ein Interview mit einem Autor, der mehr Umverteilung statt freier Migration forderte, oder Berichte über den Ausstieg der USA mit tadelndem Unterton dahingehend, dass sich die Amerikaner wieder einmal isolieren würden.
Auf der Webseite des russischen UN-Botschafters ist eine der wenigen ausführlichen regierungsamtlichen Stellungnahmen in englischer Sprache zu lesen. Diese stammt vom März 2018 – also im Vorfeld der Endfassung des Vertragsentwurfes – und wurde vom Repräsentanten Alexej Akdschigitow verfasst.
Die Argumentation in der Erklärung unterscheidet sich kaum von jener der Befürworter des Paktes in westlichen politischen Führungsetagen. Demnach sei eine geordnete, reguläre und sichere Migration im Interesse der Herkunfts- wie auch der Zielländer. Die multilateralen Verhandlungen im Rahmen der UNO wären ein sinnvoller Beitrag, um Wanderungsbewegungen in einer effektiven und vorteilhaften Weise managen zu können. Allerdings sei dieser rechtlich nicht bindend und berühre daher auch nicht die nationale Souveränität.
In der Erklärung heißt es zudem:
„Die derzeitigen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Migration verlangen nach Prävention und friedlicher Lösung von Konflikten, die zu den Schlüsselfaktoren erzwungener Wanderungsbewegungen gehören. Es ist in gleicher Weise wichtig, zu nachhaltigen Bedingungen für ein friedliches Leben in Staaten mit massenhafter Flucht von Bevölkerungsteilen beizutragen, eine Heimkehr zu ermöglichen und Menschenrechte ebenso zu fördern wie Sicherheit zu gewährleisten.“
Russland sieht in der UNO mehr Nutzen als Schaden
Betrachtet man die Politik des Kremls zum UN-Migrationspakt im Lichte der außenpolitischen Tradition und Kontinuität während der letzten Jahrzehnte und berücksichtigt man die offiziellen und nach außen propagierten Narrative, erscheint Russlands Eintreten für den Entwurf als stimmig.
Weder die Sowjetunion noch die Russische Föderation als Nachfolgestaat haben die UNO grundsätzlich kritisch betrachtet oder vor allem vom Blickwinkel einer Gefährdung der Souveränität aus. Im Gegenteil: Schon zu Zeiten der UdSSR sicherte das Vetorecht im Weltsicherheitsrat Moskau einen entscheidenden weltpolitischen Einfluss.
Gleichzeitig sah man die Vereinten Nationen immer schon als Instrument zur Einhegung des damaligen Hauptfeindes im Kalten Krieg und heute noch großen geopolitischen Rivalen USA. Die alten Bündnisstrukturen der Sowjetunion innerhalb der UN-Generalversammlung macht sich Russland, wo immer es möglich ist, immer noch zunutze. Durch eine Einbindung ehemals blockfreier Staaten, zusätzlich zu sozialistischen und solchen der islamischen Welt, konnte man dort häufig Mehrheiten gegen den Westen organisieren. Dies gelingt auch heute noch.
Entsprechend ist auch der Widerstand aus den USA und vonseiten mehrerer EU-Mitgliedsländer gegen den Migrationspakt heute ein willkommener Aufhänger, um den „amerikanischen Imperialisten“ und deren Verbündeten vorwerfen zu können, „Angriffskriege“ anzuzetteln und sich nicht um die Folgen kümmern zu wollen. Mit dem allzu schlichten russischen Narrativ von den vermeintlich inhumanen westlichen Staaten, die sich aus ihrer Verantwortung für die Schutzsuchenden stehlen würden, korrespondiert vielfach der ebenso schlichte hiesige Narrativ, es wäre ein Beweis für die Überlegenheit der westlichen Werte, dass es die Flüchtlinge nach Westeuropa ziehe und nicht in die Weiten der russischen Föderation.
Migration nach Russland vorwiegend aus Nachbarländern und der GUS
Tatsächlich versuchen nur wenige Flüchtlinge aus den Krisengebieten in Syrien und im Irak sowie aus Afrika, Russland zu erreichen. Das hat aber nicht zuletzt geografische und logistische Gründe. Viele von ihnen bleiben Binnenflüchtlinge, bleiben in nahe gelegenen Ländern wie der Türkei oder dem Libanon, stranden in Libyen oder gelangen über Marokko oder das Mittelmeer nach Westeuropa.
Russland erlebt auch selbst einen erheblichen Zustrom an Millionen von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten – allerdings stammen diese meist aus Nachbarländern wie der Ukraine oder Weißrussland oder sie kommen aus früheren Staaten der Sowjetunion im Kaukasus und in Zentralasien.
Unterm Strich wiegen allerdings die zu befürchtenden Nachteile einer Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes für Russland nicht allzu schwer. Zumindest überwiegt das Risiko aus Sicht des Kremls nicht die Vorteile, die man sich selbst durch den Multilateralismus unter dem Banner der Vereinten Nationen erhofft.
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